verfasst von Martin Groß-Albenhausen
(Dies ist der erste Teil einer vierteiligen Serie zur Entwicklung des Contextual Commerce. Teil 1 setzt den Rahmen, Teil 2 ("Persuation Architecture") widmet sich der Werbung, Teil 3 ("Produkte und Sortimente entwickeln") der Produkt-, Angebots- und Sortimentsentwicklung, Teil 4 ("mit Apps und Services differenzieren") der Veränderung von Services und Operations/Fulfillment.)
In meinen Blogposts über „Handel ohne Handel“, über das Amazon-Ökosystem und über exklusive Produkte habe ich beschrieben, wie die klassischen Distributionssysteme zwischen Hersteller und Verbraucher durch das Internet neu organisiert werden. Ich gebe der Herausforderung für den Handel den Namen „Contextual Commerce“ - Kauf, der sich stärker an den Kunden schmiegt und ihm die Angebote in sein Lebensumfeld bringt statt noch seinen Weg in den Laden vorauszusetzen (virtuell wie physisch). Die Strategie und Architektur habe ich erstmals auf der bvh 2.014 Anfang April vorgestellt.
Was bestimmt Contextual Commerce? Die Grundüberlegung ist, dass die Händler bei transaktionalen Suchen den Marktplätzen und neuen Verticals unterlegen sind. Deren breites und tiefes Sortiment zahlt besser auf die Algorithmen der Suchmaschinen ein und ermöglicht höhere Positionierung. Dass heute schon mehr als die Hälfte aller Onlineumsätze auf Marktplätze entfallen, ist nicht der Dummheit des Kunden geschuldet, sondern der besseren Sichtbarkeit der Plattformen und dem Wunsch des Kunden nach „Entlastung“.
Genau so würden und werden viele einem sicheren Checkout aus Preisvergleichen heraus den Vorzug geben, statt erst noch in einen letztlich zu Beratungs- oder Preisfindungszwecken nicht mehr nötigen Shop zu springen. (Gestern auf dem Trusted Shops Mitgliedertag berichtete Johannes Altmann von einer Studie, bei der Kunden als beliebtesten "Shop" den Preisvergleicher idealo.de nannten...).
Also muss der Händler anders ansetzen: bei den (viel schlechter im Checkout konvertierenden) informationalen Suchen. Das ist die Domäne des Contentmarketings, das über Blogs, Videos, aber auch Social Media und intelligente, eher nutzen- als verkaufsorientierte Websites funktioniert.
Kontextuale Suche und die korrespondierende kontextuale Werbung geht einen Schritt weiter, indem der Content maximal auf die Situation des Kunden adaptiert wird. Das Angebot, auf dem der Kunde landet (die Landingpage), oder die Werbung, die ausgesteuert wird, müssen die gerade relevanten Fragen der Kunden beantworten. Der Händler hat die Chance, sein Produkt- und vor allem sein Kunden-Wissen so zu organisieren, dass er in der Nutzungssituation die besseren Informationen bieten kann.
- Runners-Point könnte beispielsweise die schon bestehenden Assets der Laufschuh-Beratung durch Analyse der Bein- und Fußhaltung beim Laufen auf Smartphones oder Google Glasses applizieren. Es wird ein Kontext geschaffen, in dem der Händler quasi exklusiv im Rahmen der virtuellen Beratung den richtigen Schuh anbieten kann. Wenn man sich von dem Laufpartner analysieren lässt, ist es sogar ein soziales Erlebnis.
Ein Hobby- oder Kunstbedarf-Anbieter kann die Zeichenschule virtualisieren und in diesem Kontext die nötigen Stifte/Pinsel/Farben vorschlagen, um eine bestimmte Szenerie zu malen.
- Ein Modehändler kann die Kleidung eines beliebigen, mit dem Smartphone aufgenommenen Streetstyles analysieren und aus seinem Sortiment matchen. Oder er kann den „Selfie“ als Grundlage für Style-Recommendations nehmen. Nichts anderes macht gerade die Amazon-Tochter Zappos mit dem Instagram-Projekt #nextootd (Outfit Of The Day).
Contextual Commerce bieten Butlers und IKEA heute schon mit ihren Virtual Realtiy-Anwendungen. Für den Möbelhandel sind das Killer-Applikationen. Für Kosmetik und Mode kann das genau so gelten.
Es überrascht nicht, dass die amerikanischen Konzerne derzeit Ressourcen in Sprach- und Bilderkennung stecken. Google Glasses bringt dem Nutzer um so mehr, je präziser die Brille die Aktivitäten des Kunden und sein Umfeld erkennt, und um so exakter Google aufgrund dieser Informationen relevante Informationen einblenden kann. „Random Information“, die ohne situativen Kundenbezug via iBeacons auf Smartphones ausgespielt wird, wird rasch abstumpfen oder vom Kunden aktiv ausgeblendet.
Contextual Commerce bietet eine Chance vor allem deshalb, weil Händler den Kunden gut kennen und Antworten geben können - statt nur Produkte auszuwerfen. Das iPhone stellt inzwischen über Siri Informationen rein auditiv zur Verfügung, ohne Screen. Könnte ein Kunde durch Fragen, ohne Bildschirm, das Produkt in Ihrem Onlineshop finden? Hier wird Contextual Search zu „Conversational Search“.
In den vergangenen Wochen sind mir zwei interessante Lösungen erstmals begegnet, die vom Payment her den Handel umgestalten. Zum einen der von unserem Preferred Business Partner Klarna in Berlin vorgestellte neue „Checkout“, bei dem die Zahlungsvereinbarung von der Bestellung getrennt wird. Zum anderen das PostPay-Verfahren, das in ganz ähnlicher Weise das „Haben-wollen“ vom „Bezahlen-können“ entkoppelt.
Warum sind diese beiden Entwicklungen für den Contextual Commerce wesentlich? Weil der Händler damit den Kunden nicht mehr in den sicheren Kontext seines Shops-Checkouts zwingen muss, sondern Transaktionen ohne den klassischen Warenkorb-Prozess abschließen kann. Es ist, als würde man die Kasse aus dem Laden verbannen. Sprachmuster-Erkennung kann heute einen Menschen besser identifizieren als PIN-Codes und damit eine Transaktion sicherer machen als „Button-Clicks“. Genauso ist heute in Tests schon die Bezahlung mit einem Gesichts-Scan möglich.
Mein Zwischenfazit: So wie der Katalog eine Krücke für den Versandhändler war, um sein Warensortiment ohne Laden zum Kunden zu bringen, ist der Onlineshop für ihn eine Krücke, um seine Kompetenz beim Kunden auszuspielen. Die Entkoppelung einzelner Prozessglieder einerseits und die Veränderung der Medien andererseits machen neue, eng am Kunden angesiedelte Angebotsformen möglich. Handel geht ohne Laden und Onlineshop.
Der klassische Onlineshop besteht für die informationalen, navigationalen und transaktionalen Suchen weiter; allerdings hat er gegen die viel breiter und tiefer sortierten Marktplätze nur dann eine Chance, wenn er genügend eigene Relevanz über kontext-orientierte Organisation und Navigation onsite und über Apps offpage bietet.
Utopie? Otto hat mit dem Projekt Collins genau so einen Weg eingeschlagen. Apps wie nachteule.de verknüpfen Angebote mit Kundenkontexten. Bei der Launch-Party am Montag in Hamburg zeigten Benjamin Otto und Tarek Müller, dass die Plattform "AboutYou" mit ihren Apps die logische Antwort auf die Erwartung des Kunden ist, dass es im Handel "About Me" gehen sollte.
Mit dem Slogan „Vom Retail zum Me-tail“ stellen wir diese dramatische Veränderung im Handel insgesamt in den Mittelpunkt des etailment Summit 2014 vom 7.-9. Oktober 2014 in Berlin. Join the Conversation - unter www.etailment-summit.de