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Contextual Commerce (3): Produkte und Sortimente entwickeln

verfasst von Martin Groß-Albenhausen

(Dies ist der dritte Teil einer vierteiligen Serie zur Entwicklung des Contextual Commerce. Teil 1 ("Jenseits der transaktionalen Suche") setzte den Rahmen, Teil 2 ("Persuation Architecture") widmet sich der Werbung, Teil 3 der Produkt-, Angebots- und Sortimentsentwicklung, Teil 4 ("mit Apps und Services differenzieren") wird die Veränderung von Services und Operations/Fulfillment diskutieren.)

 

Der Konflikt zwischen Einkauf und Marketing ist auch durch den Ansatz des Category-Managements nicht endgültig zu lösen. Früher es die hohe Kunst des Einkaufs, „nein“ sagen zu können. Marktplatz- und Vertical-Modelle haben diese Logik ausgehebelt, indem Breite und Tiefe nicht mehr durch die natürlichen Grenzen eines Regals oder Ladens bestimmt werden. Dies wird vielen stationären Händlern das Genick brechen, weil ihre Sortimentsleistung keine Relevanz mehr besitzt. Warum sollte ich der Einschätzung eines einzelnen Einkäufers mehr vertrauen als der Expertise von vielen „peers“, die mir auf Plattformen Produkte empfehlen?

 

Dennoch ist es möglich, auch mit reduziertem Sortiment Kunden zu gewinnen und zu binden. Bild 5 zeigt, wie Produkt und Sortiment auf den Kontext der Kunden zugeschnitten werden.


 

 

  • Auf der unteren Ebene geht es einerseits um die Entscheidung, die verwendeten Grundstoffe den Möglichkeiten oder dem Wertversprechen an die Zielgruppe anzupassen. Entscheidend ist hier auch die mittlere Säule, die der Vermittlung. Das passende Zahlungsangebot ist hier so wichtig wie die richtige Wahl von Staffelpreisen.
  • Die mittlere Ebene: Produkt-Features sind die Antwort der Produkt- und Sortimentsentwicklung auf den täglichen Nutzungskontext der Kunden. Aber auch diese genügen nicht, wenn die Produkte an sich nicht exklusiv sind - und gerade bei Marken, die im Onlinehandel eine große Rolle spielen, ist dies selten der Fall. Vergessen wird dabei häufig, dass jeder Produktkauf für den Kunden verborgene Transaktionskosten mit sich bringt - z.B. Aufwand bei der Übertragung von Kontakten bei neuen Telefonen, farblich nicht harmonierende Bestandteile etc. Tutorials, Service-Gutscheine oder Baukasten-Systeme sind so relevante Wertversprechen für Kunden, die weit über reines Category Management hinausgehen. Entscheidend ist: Sie müssen mit dem Angebot verknüpft und eine Verbesserung des Produktpackages darstellen. Häufig haben solche im Paket zugegebenen Artikel eine viel bessere Marge - und der Kunde hat keine Vorstellung vom Preis. Manche Bonus-Systeme beruhen auf diesem Mechanismus.
  • Nicht zuletzt entscheidet das Design der Produkte (obere Ebene) oder des gesamten Einkauferlebnisses bis hin zur Verpackung darüber, ob der Kunde wieder bei einem Händler kaufen wird. Zum Design gehört hier weit mehr als nur das Produkt - das "Umfeld" (Paketbeigaben) spielt genau so eine Rolle wie z.B. die thematische Aufbereitung im Shop und die verbliche Inszenierung mit passenden Models, ggf. Szenerie oder "Product in Action"-Fotografie.


Die bekannten Marken in Abbildung 6 zeigen Beispiele von Händlern, die sich nicht mit der Werbung, sondern mit dem Produkt stark am Kunden orientieren.

 

  • ASOS hat am Anfang gerade nicht auf Markenware gesetzt, sondern es den jungen Online-Kundinnen erlaubt, günstig den Stil ihrer Stars nachzuahmen. ASOS benötigte kein breites und tiefes Sortiment, sondern beherrschte eine sehr straffe Supply-Chain, die innerhalb weniger Tage Ware fertigen konnte. Das Konzept setzte stark auf die Wünsche und Träume der Kundinnen. Auf Ottos Collins-Plattform „AboutYou“ bietet eine App inzwischen das gleiche Konzept, allerdings basierend auf einem breiten Artikelsortiment, das auf die Styles der „Idols“ gematcht wird.
  • Engelbert Strauss spielt ebenfalls mit den geheimen Träumen der Kunden. Am Produkt „Berufsbekleidung“ ließ sich nicht viel differenzieren - aber durch das Testimonial Ralf Möller und exzellentes Storytelling in der TV- und Onlinewerbung hat Strauss seine Eigenmarken als „Workwear für Helden“ positioniert.
  • Das Berliner Startup Ryzze entwickelt Marken aus dem Nichts und verkauft diese ausschließlich im Umfeld von Shopping-Clubs. Da dort eine Markenerwartung auf unbekannte Brands übertragen wird, hat Ryzze eine Inszenierung seiner Produkte im Moment der Zustellung entwickelt - mit Kundenkarte, besonderer Verpackung, hochwertigen Web-Auftritten.
  • IKEA ist inzwischen ein sehr traditionsreiches Unternehmen, wird aber von den Kunden immer noch als jung wahrgenommen. Die Werbung und Produktentwicklung setzt stark darauf, Möbel für typische Alltagsumgebungen zu entwickeln, mit dem Fokus auf Lebenssituationen (Student, junge Familie...).
  • Mey & Edlich verkauft ein begrenztes Sortiment. Jeder Katalog belegt, dass die Produkte sich miteinander hervorragend kombinieren lassen und so der Kunde sicher sein kann, stets gut angezogen zu sein - zu verschiedensten Anlässen. Die Produkttexte spielen mit den typischen Alltagssituationen, die von formell bis casual und relaxed fließend übergehen.
  • Jako-o ist „von Eltern für Eltern“ gemacht und belegt dies durch kleine geniale Verbesserungen (z.B. den „mitwachsenden Baby-Body“). Die Autorität ist so groß, dass sich Jako-o erlauben kann, in der Werbung Produktkritik zu äußern, und dies als Verkaufsverstärker zu nutzen.
  • Lars by Longfield ist der Versuch, in einem Modesortiment jedes Produkt mit einem konkreten Vorteil auszustatten, der aus dem Material erwächst. Dabei steht - ähnlich wie bei Mey & Edlich - der Nutzungskontext der Kunden im Fokus, dem durch das Material Vorteile entstehen.
  • Fashionette hatte anfangs mit dem Konzept der Miet-Taschen Luxus demokratisieren wollen. Dieses Konzept hat sich nicht durchgesetzt, war vielleicht auch zu früh. Inzwischen setzen Anbieter wie videfashion oder mädchen-flohmarkt darauf, dass Re-Commerce auch für Mode funktionieren kann. Dies sind Angebote, die begrenzte Kundenbudgets durch Angebots- oder Prozessinnovation mit hochwertigen Waren verbinden wollen.

Produkt- und Sortimentsentwicklung im Zeichen des Contextual Commerce geht über die klassische Sortimentierung hinaus. Es geht nicht um die Reduktion eines Produktuniversums auf Vertriebsthemen (Farbe) oder Category-Killing. Das Sortiment wird um die Interessen und Aktivitäten der Kunden herum entwickelt und verbindet den praktischen Nutzen mit der gefühlten Nähe. Dem folgt auch die Organisation des Shops, der die Produktdaten mit dem Einsatzzweck in Kontext bringt und damit eine wesentlich bessere Selektion ermöglicht, als dies ein Gigant wie Amazon in jeder Produktnische abbilden könnte. 

Ein Produkt ist für den Kunden eine App - ein Mittel zu einem bestimmten Zweck. Je besser der Händler diesen Zweck versteht, um so schärfer und überzeugender werden die Angebote.

Die App „nachteule.de“ auf der AboutYou-Plattform matcht bestimmte Modestile auf das Publikum von Clubs. Das Leistungsversprechen ist nicht einfach Mode, sondern der garantiert stilsichere Auftritt, um am Türsteher vorbeizukommen. Die App ist ein Werkzeug, die Mode das Mittel zum Zweck des „Dabeisein dürfens“.

 

Unter dem Session-Titel "Me-Product" diskutieren wir am 8. Oktober auf dem etailment-Summit 2.014 über diese wesentliche Herausforderung im neuen Handel. Jetzt schon anmelden!