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Handel ohne Handel denken

verfasst von Martin Gross-Albenhausen

Ob es an Melatonin-Mangel oder am düsteren hundertsten Jahrestag liegt: Untergangsszenarien für den deutschen Einzelhandel haben Konjunktur. Das beliebteste bzw. verhassteste wahrscheinliche Szenario lautet: Das Internet zerstört alle Mittler zwischen Hersteller und Verbraucher.

Das leuchtet vollständig ein, denn die klassische Einzelhandelslehre hat bis heute noch nicht reflektiert, dass Raum und Zeit als wesentliche Erzeuger von „Mangel“ (an Information, an Warenverfügbarkeit) wegfallen. Damit erübrigen sich auch solche Mittler, die auf der Fläche diese Mängel beseitigen und allein dadurch ihre Berechtigung haben. Für eine ultraeffiziente Kundenbeziehung genügt heute der Hersteller, der Logistiker, der Zahlungsdienstleister und Google (bzw. eBay und Amazon).

An dieser Stelle enden die meisten Abgesänge, und die Verfechter des Multichannel verweisen auf Beratung, Service oder Erlebnis als Heilmittel. Und bleiben damit weiter in der Raum-Zeit-Falle hängen:

  • Die beste Beratung vor einem Produktkauf liefern heute Experten-Blogs, Unboxing- und Haul-Videos, die z.T. von den Herstellern unterstützt werden. Erfolgsbeispiele, bei denen solche Informationsmittler zugleich erfolgreiche Händler wären, gibt es – aber selten. (Und ehe das Argument kommt: Nein, iBeacons sind kein Rettungsring, um solche Daten auf der Fläche darzustellen. Sie zeigen den Kunden nur um so deutlicher, dass er den Berater im Laden nicht braucht.)
     
  • Beratung kann ohne Blog oder Video auf Datenbasis erfolgen, wobei die Mehrwertleistung in der Datenkonsolidierung liegt. Diese Übersetzung unterschiedlichster Produktdaten in eine gemeinsame Sprache in einer uniquen Aufbereitung erzeugt Relevanz für unterschiedlichste Zielgruppen und bietet damit Platz für mehr als einen „Mittler“. Provisions- oder Affiliatemodelle können funktionieren, wobei eben nicht mehr die Händler, sondern die Hersteller Vertragspartner sind.
     
  • Service wird heute von den Logistik- und Finanzpartnern sowie separaten, bundesweit agierenden Dienstleistern vorgenommen. Sie können die neuen starken Markenpartner werden, weil ihr Ertrag nicht aus der Marge resultiert, sondern aus den „Nebenspesen“, die Kunde und/oder Händler mit dem Kauf akzeptieren.
     
  • Erlebniskauf bedeutet im Laden weniger produktive Fläche und Mehrkosten, ändert also nichts am Problem und ist für den kleinen, undifferenzierten Händler nicht darstellbar. Umgekehrt stattet ein Hersteller Events aus und macht Ware im Umfeld des Events sinnvoll erlebbar und wickelt den Kauf dann direkt ab. Das Event ist Geschäftszweck, der Verkauf Zusatz.

Ideen gegen den Horror Vacui

Die Einkaufszentren und Läden, wie wir sie kennen, sind nur eine Episode im Lauf der Geschichte. Die längste Zeit boten Handwerker und Hersteller ihre Waren auf Märkten feil. Das war es auch schon. Nicht der Marktplatz zerstört die Händler, die Händler haben früher die Märkte überflüssig gemacht. Läden boten mehr Convenience für Anbieter und Kunden. Wenn dieser Vorteil nicht mehr gilt, braucht es diese Form von Mittler nicht mehr, wie es auch die fahrenden Händler kaum noch gibt. Wenn damit der Bedarfskauf wegfällt, kann man den Laden mit Impulskäufen aus dem zufälligen Lauf heraus nicht mehr retten.

Im vergangenen Jahr hatte ich Waren- und Datenleistungen der verschiedenen Teilnehmer der Wertschöpfungskette aufgezeigt. Auch hier zeigt sich, dass es kaum eine Leistung „in der Mitte“ gibt, die nicht rein online oder auch über Agenten statt Händler erbracht werden kann.



Wenn wir endlich akzeptieren, dass der Einzelhandel in der gegenwärtigen Form überflüssig werden könnte, dann werden Raum und Stadt zu weißen Flächen, zu einem Canvas, der neu gefüllt werden kann.

Was ist nicht nur ein alternatives, mit geringerer Effizienz oder Produktivität belastetes Konzept zum digitalen Direktvertrieb? Was ist tatsächlich ein komplementäres Konzept, das sich skalieren lässt und dem Betreiber erlaubt, nicht aus der Handelsmarge allein, sondern aus einer immer kundenbezogeneren Leistung am Produkt seine Existenz zu rechtfertigen?

Eine Entlastung von den Zwängen der Flächenoptimierung durch die Integration von E-Commerce und stationärer Präsenz kann spannende Konzepte ermöglichen: Schnellere Themenwechsel, Zielgruppen-Optimierung, Beratung mit Daten des Kunden, neue Verkaufsbündel (Reise + Urlaubsartikel), um nur einige zu nennen.

Wenn wir nur die Konzepte um die Datenwelt des Internet herumbauen, entstehen neue Wertschöpfungsmodelle. Das Problem ist, dass die Verteidiger wie die Kritiker des bestehenden Handels "inside the box" argumentieren.

Handel geht ohne Handel. Aber für einen Abgesang auf den Händler ist es noch zu früh.