verfasst von Martin Groß-Albenhausen
Der typische Weg in den E-Commerce führt heute über ein Studium - vorzugsweise Bachelor in Wirtschaftswissenschaften oder Wirtschaftsinformatik, aber auch weitere einschlägige Abschlüsse. Mit dem Ausbildungsberuf der E-Commerce-Kaufleute steht ab 2018 ein viel praxisnäherer Zugang offen. An diesen wird sich bald die Fortbildung zum E-Commerce-Fachwirt anschließen. Damit können Praktiker im Unternehmen einen durchlässigen Ausbildungsweg bis auf ein Niveau abschließen, das im Deutschen Qualifikationsrahmen dem Bachelor gleichgestellt ist.
Soweit die Theorie. Wie aber unterscheiden sich die beiden Bildungswege? Und viel wichtiger für die Unternehmen, die einstellen und fördern: wenn Bachelor und Fachwirt formal beide im Deutschen Qualifikationsrahmen auf Niveau 6 eingestuft sind, sind die Abschlüsse tatsächlich gleich viel wert?
Um die beiden Möglichkeiten grundlegend zu unterscheiden, lohnt ein Blick auf die schulische Realität. Viele Schulabgänger mit allgemeiner Hochschulreife oder Fachabitur scheuen heute die Ausbildung und streben einen akademischen Abschluss an. Insofern ist der früher übliche Weg „erst Ausbildung, dann Studium“ heute einem grundständigen Bachelor-Abschluss gewichen. Diesen kann man in 6-8 Semestern erreichen. Eine Ausbildung dauert in der Regel drei Jahre, ggf. auf zwei Jahre verkürzt. Ein weiteres Jahr kann man für den Fachwirt hinzurechnen.
Dieser Vergleich ist wichtig, weil das akademische Bewertungssystem auf Credit-Points beruht, die wiederum aus der Anzahl absolvierter Lehr- und Lernstunden errechnet werden. Das bedeutet: ein Bachelor erwirbt mindestens 180 oder 210 Credit-Points nach europäischem Rahmen (ECTS). Jeder Credit-Point entspricht 25-30 Stunden Vorlesung und Selbststudium. Macht also zwischen 4500 und 6300 Ausbildungsstunden.
Der Ausbildungsrahmenplan für E-Commerce-Kaufleute wiederum geht von knapp 156 Wochen Ausbildung im Betrieb aus. Da Azubis ca. 1,5 Tage in der Woche in der Berufsschule lernen, bleiben regulär ca. 28 h Ausbildung pro Woche. Die Berufsschule hat ein Deputat von 880 Stunden. Der Fachwirt bringt noch einmal ca. 600 Stunden – macht in Summe ca. 5850 Ausbildungsstunden.
Vom zeitlichen Aufwand her gesehen, sind Bachelor und Fachwirte also auf Augenhöhe. Freilich gibt es inhaltliche, bedeutende Unterschiede. Aus diesem Grund werden zwar Fortbildungen wie der Fachwirt heute ähnlich wie ein Studium staatlich gefördert ("Meister-Bafög"), aber obwohl Fachwirte und Bachelor nominell auf dem gleichen DQR-Niveau ausgebildet sind, können die Fachwirte deutlich weniger Credit-Points für einen theoretischen möglichen Bachelor- und Master-Abschluss anrechnen lassen.
Das weist auf den großen Unterschied zwischen den beiden Bildungswegen hin: Ausbildung und Weiterbildung qualifizieren für den praktischen Einsatz in einer Branche, das Bachelor-Studium für mittlere Führungspositionen in der gesamten Wirtschaft. Im Umkehrschluss fehlt es den Fachwirten an betriebswirtschaftlich breitem Wissen auf solidem wissenschaftlichem Fundament, wo es den Bachelorn an Fertigkeiten und Erfahrungen, sowie hartem Fachwissen im betrieblichen Kontext mangelt.
Anders gesagt: Azubis und Fachwirte sind Perlen, die sich über die Zeit eine solide, glänzende Hülle aus Fähigkeiten, Kenntnissen und Fertigkeiten im Beruf angeeignet und theoretisch überbaut haben. Bachelor hingegen stehen auf einem soliden Gerüst und überblicken die mikro- und makroökonomischen Zusammenhänge, und sie unterfüttern dieses Gerüst im Berufsleben mit Praxis. Erstere sind für jeden Betrieb zum Zeitpunkt des DQR 6-Abschlusses extrem produktiv - letztere sind darin geschult, sich und dem Unternehmen zukünftig neue Bereiche zu erschließen.
Im E-Commerce liegen die Dinge noch etwas anders. Die Frage: „Bachelor oder Fachwirt?“ beantworten E-Commerce-Unternehmen derzeit mit "Bachelor" – denn weder gibt es bisher E-Commerce-Kaufleute noch E-Commerce-Fachwirte. Der kommende Ausbildungsberuf aber enthält viele Elemente, die in höhere DQR-Niveaus hineinragen. Die Arbeit mit IT-Anwendungssystemen, Analytics und nicht zuletzt die im Rahmenplan betrieblich wie schulisch erworbene Praxis, sich den Veränderungen im sehr technologie-getriebenen "Digital Commerce" permanent zu stellen. Der Fachwirt vertieft die betriebswirtschaftlichen Kenntnisse und Führungskompetenz im digitalen Kontext.
Weil dadurch E-Commerce-Praktiker ohne akademische Weihe wesentliche Aufgaben des mittleren Managements übernehmen können, müssen die Bachelor für unsere Branche vertieftes Wissen in Detailbereichen zur Verfügung stellen, mit denen sie die Betriebe auf die nächste Stufe führen. Hier bieten sich Informationswissenschaften an, neudeutsch: Data Science, IT-Development (Software und Hardware), auch Finance oder entsprechend spezialisierte Studiengänge im Marketing, Supply-Chain-Management etc.
Denn selbst wenn wir mit den E-Commerce-Kaufleuten den ersten Ausbildungsberuf für digitale Geschäftsmodelle geschaffen haben, gilt weiterhin: In einer Branche, die einfache Tätigkeiten durch Algorithmen ersetzt, wird auch künftig der Bedarf nach höher Qualifizierten nicht sinken. Nach Mitarbeitern, die durch Technologie- und Datenkompetenz über die reine Anwendung hinausgehen können.
Zwar sind die Inhalte der Ausbildung zu E-Commerce-Kaufleuten und -Fachwirten bewusst abstrakt formuliert, um sie ständig mit aktuellen Inhalten füllen zu können. Dennoch gilt mehr als in jedem anderen Beruf: im E-Commerce hat man niemals ausgelernt. Wer im E-Commerce sicher bestehen will, braucht die Transformations-Kompetenz der Bachelor und Master.
Um für den E-Commerce solche Spezialisten heranzubilden, muss die Hochschule in eine größere Zahl an Lehrveranstaltungen eindeutige Bezüge zu digitalen Geschäftsmodellen integrieren. Das erfordert mehr Personal und/oder den Erwerb entsprechender Kompetenzen bei den Hochschullehrern. Hier hinkt Deutschland noch hinterher, auch wenn die Zahl der Universitäten und Hochschulen steigt, die sich im digitalen Sektor profilieren. Erst dann wird für ausgebildete E-Commerce-Kaufleute und -Fachwirte – und ihre Unternehmen – ein Schuh daraus, in einem dedizierten Feld den Bachelor aufzusatteln oder auch einen Master anzustreben.