DC2M-Plattformen

Revolution im E-Commerce

Plattformen wie Shein und Temu stehen in der Kritik, dem fairen Wettbewerb in nie dagewesener Weise zu schaden. Die günstigen Preise seien nur möglich, weil die Plattformen Compliance-Kosten (u.a. ESG, Produktsicherheit) vermeiden, Zollkontrollen unterlaufen und bei der Postzustellung bevorteilt würden. Viele der Vorwürfe lenken aber davon ab, dass die wahre Herausforderung von den Geschäftsmodellen ausgehen. Diese unterscheiden sich nicht nur, sondern stellen die eigentliche Disruption dar, die den europäischen Handel erschüttert. 

Europas Hersteller setzen auf D2C und datenbasierte Produktentwicklung

In Europa entdecken Hersteller die Plattform-Ökonomie und den E-Commerce als Weg, ihre Waren direkt an Kunden zu verkaufen oder wenigstens von diesen wertvolle Nutzerdaten zu erhalten, um ihre Produkt-Pipeline zu optimieren. "Direct to Customer” oder D2C steht in der Logik der Supply-Chain als Wertschöpfungsmodell des Handels. Große Datenmengen werden dabei verarbeitet, ohne die grundsätzliche Logik vertikal integrierter Handelsgeschäfte infrage zu stellen: Produktentwicklung und Design liegen in der Hoheit der Hersteller bzw. Händler. Die neuen Kollektionen werden ggf. In Testfilialen oder früher -katalogen dem Markt präsentiert und die final benötigte Menge berechnet, um möglichst wenig Überschuss zu erzeugen.

C2M: Asiatisches Modell integriert Kunden vollständig in die Produktionsplanung

Das asiatische Gegenmodell kehrt die Supply-Chain um, lernt nicht nur vom Kunden, sondern bindet ihn “end to end” in die Produktionsplanung ein. “Consumer to Manufacturer” oder C2M (zuweilen auch als “Factory to Consumer” bezeichnet) ist erst möglich geworden, weil mehrere Faktoren zur Verfügung stehen:

  • Die Informationshoheit ist durch Digitalisierung und E-Commerce auf den Verbraucher übergegangen. Der Händler hat die Informations- und Distributionshoheit sogar im engeren geographischen Umfeld verloren.

  • Die Verbraucher sind bereit, im digitalen Raum gestaltend tätig zu werden. Basiskomponente hierfür ist das Web 2.0 mit sozialen Netzwerken und Customization-Angeboten, mit Kundenbewertungen und Peer-Experten, die in Konkurrenz zum Marken-Vertrauen treten.

  • Plattformen als Aggregatoren bringen genügend große Datenmengen und Nachfrage zusammen und treten ggf. als Service-Intermediär (aber nicht mehr als sortimentierender Händler) hinzu.

  • Die Produktion senkt durch die Nutzung digitaler Zwillinge und flexiblere Maschinen die Rüstkosten um ein Vielfaches, so dass die bisherige Skalenlogik der degressiven Stückkosten entfällt. Automatisierung und Robotik senken die Basismengen, die für die Produktion zu marktgängigen Preisen nötig sind.

  • Die künstliche Intelligenz kann disparate Maschinendaten, Produktdaten und Konsumentendaten so effizient verknüpfen, dass Personalisierung und Individualisierung ohne die prohibitiven Kostenaufschläge möglich sind.

Asiens C2M-Modell entwickelt sich über klassische Mass Customization hinaus

C2M umfasst mehrere Varianten. Die älteste liegt in der 1:1-Fertigung im Kundenauftrag, bei der Varianten in einer bestimmten Bandbreite möglich sind (sog. Mass Customization). Dieses Modell steht nicht im Fokus der asiatischen Herausforderer, obwohl mit BIYAO (2015) die erste C2M-Plattform in China dieses Geschäftsmodell hatte.

  • Alibaba: Das 2018 erstmals Investoren präsentierte Alibaba OS integrierte Social Apps, Micro-Influencer, Marketing-Kanäle, Produktion, Finanzierung, Logistik und auch die Einbindung lokaler Händler. Ziel war es, die in China damals aufkommende Live-Shopping-Kultur mit der Produktion zu kleinen Losgrößen zu vernetzen. Designer konnten für ihr persönliches Umfeld Ware günstig produzieren (z.B. in der dafür pilotierten Xunxi-Fabrik). Über diese Kleinmenge hinaus konnte der Konzern aus den großen Datenmengen die weitere Abnahmemenge bei Vertrieb on- und offline hinaus prognostizieren und so eine Fertigung eng am tatsächlichen Bedarf steuern.

  • Shein verknüpft in ähnlicher Weise datengetriebenes Wissen um Marktgängigkeit mit Produktionsbetrieben und kann so täglich tausende neuer Produkte auf seiner Plattform anbieten und in geringen Mengen mit sehr geringer Kapitalbindung und Lagerrisiko vertreiben. Dabei tritt Shein zunächst als Händler auf, öffnet sich nun aber für Dritte. Das integrierte Produktionssystem mit unabhängigen, aber eng eingebundenen Fabriken, stellt Shein unter “SheinX” auch als Dienstleistung für unabhängige Designer zur Verfügung.

  • Temu aus dem Pinduoduo-Konzern kommt vom klassischen Gruppeneinkauf, der zu Beginn der 2000er Jahre in Deutschland unter anderem von Startups wie “letsbuyit.com” im Markt getestet, aber nicht durchgesetzt wurde. Auch in einzelnen Sortimenten wie z.B. bei Möbeln scheiterte das Konzept, nicht zuletzt an der Regulierung, die den Kunden auch dann eine Retoure ermöglichte, wenn sie am Design des Möbels selbst beteiligt waren. Anders als Shein tritt Temu weniger als Händler denn als Marktplatz auf. Die Fabriken verkaufen direkt an die Kunden. Temu teilt aber Dateninsights mit den Fabriken.

Alle drei Modelle teilen die Umkehr der Produktionslogik zu einer “Demand-Chain”. Dafür haben Sie eine digitale Verzahnung des sog. Shop-Floor (also der Produktionsmaschinen) mit den Commerce-Systemen geschaffen, was sehr kurze Vorlaufzeiten für die Herstellung und Vermarktung der Waren mit sich bringt. Diese systemischen Vorteile, die auch kostenseitig wirken, blieben den Anbietern auch bei vollständiger Compliance erhalten.