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Zum 1. Mai: E-Commerce-Kaufleute und gute digitale Arbeit

verfasst von Martin Groß-Albenhausen

Die Kitas. Die Bahn. Die angestellten Lehrer. Die Piloten. Die Post. Und natürlich Amazon. Zum 1. Mai 2015 gibt es viele ungelöste Arbeitskonflikte. In manchen Fällen geht es vor allem um die Löhne. In anderen geht es um Branchenstrukturen. Das dickste Brett bohrt ver.di im Handel – denn hier geht es um die Modernisierung von Tarifsystemen in einem Wirtschaftszweig, dessen traditionelle Gliederung entlang der Wertschöpfungskette aufgesprengt wird.

Seit vergangenem Herbst bereiten wir mit einer Arbeitsgruppe das Berufsbild und eine mögliche Ausbildungsordnung für einen Beruf vor, der zum ersten Mal unserer Branche voll entsprechen soll. Die bislang im Online- und Versandhandel ausgebildeten Berufe – Kaufleute für Dialogmarketing, Marketingkommunikation, Groß- und Außenhandel, Logistik oder IT – decken alle nur ausschnittsweise die Arbeitswirklichkeit im E-Commerce ab. Die Gewerkschaft ver.di und der Handelsverband Deutschland haben sich nun dem Vernehmen nach darauf geeinigt, am aktuell neu zu ordnenden „Kauffrau/-mann im Einzelhandel“ wenig zu ändern. Eine Wahlpflichtqualifikation „E-Commerce“ im dritten Ausbildungsjahr wird zwar eingeführt, aber weiterhin gibt es keine Möglichkeit für Online- und Versandhändler ohne Ladengeschäft, den Beruf auszubilden.

Um so wichtiger und begrüßenswerter ist, dass der HDE nun ebenfalls – und als Arbeitgeberverband federführend – einen Ausbildungsberuf „Kaufleute im E-Commerce“ befürwortet und vorantreibt. Die Ergebnisse unserer weiterhin separat tagenden Arbeitsgruppe bringen wir dort seit Januar 2015 ein, damit in möglichst kurzer Frist und friktionslos ein moderner Beruf für den Handel der Gegenwart entsteht. Dass dafür Bedarf besteht, zeigen die zunehmenden Nachfragen aus den IHKs bei uns und unseren Mitgliedern.

Doch der „E-Commerce-Kaufmann (bevh)“ ist weit mehr als die moderne Online-Kehrseite des „Kaufmanns im Einzelhandel“, um hier einmal die veraltete Bezeichnung zu strapazieren. Es geht tatsächlich nicht nur darum, den Handel zukunftsfähig zu machen. E-Commerce-Kaufleute steuern vielmehr den Handel der Zukunft.

Die Ausbildungsberufe im (Einzel)handel gehen weiterhin von dem folgenden tradierten Rollen- und Funktionsverständnis des „Retailers“ aus:



Waren, Währung und Werbung werden heute ohne den klassischen Händler als Mittelsmann von neuen Intermediären genauso gut, wenn nicht sogar besser erbracht:



E-Commerce-Kaufleute, die innerhalb dieses neuen Retail-Ökosystems Handel treiben, müssen bereits vollständig anders einkaufen, werben, beraten und „kassieren“. Dafür allein braucht es eine spezielle Ausbildung.

Aber E-Commerce findet eben nur zum geringsten Teil innerhalb dieser Box statt. E-Commerce beginnt heute in der Fabrik und endet beim Endkunden. E-Commerce ist „End-to-End“-Commerce, und vor allem dafür braucht es qualifizierte Mitarbeiter.



Waren-, Informations- und Finanzierungsströme überspringen heute die Glieder der klassischen Wertschöpfungskette. Logistiker betreiben Onlineshops für Hersteller. Großhändler verkaufen über Plattformen direkt an Endkunden. Paypal wird nach der Abspaltung von eBay voraussichtlich eine Kapitalisierung wie die Deutsche Bank erreichen und wird nach neuen Geschäftsfeldern suchen.

E-Commerce wird im Großhandel und in der Industrie genauso, wenn nicht noch viel mächtiger stattfinden als im Einzelhandel. Für solche völlig neuen Geschäftsmodelle jenseits des verfassten Einzel- und Versandhandels müssen E-Commerce-Kaufleute ausgebildet werden.

Darum bohrt ver.di derzeit das dickste Brett im Handel. Die Tarifsysteme sind auf klassische Handelsmodelle ausgerichtet. Der Wettbewerb kommt jedoch von außen und wird von den aktuellen Verhandlungen und Akteuren nur ausschnittsweise erfasst. Die Zuständigkeit für den Handel nützt ver.di innerhalb der konkurrierenden DGB-Gewerkschaften nichts, wenn künftig direkt vertreibende Hersteller (bei denen nach dem Tarifeinheitsgesetz z.B. IG Metall oder IG BCE das Sagen haben), importierende Großhändler oder Logistiker einen immer größeren Teil des E-Commerce-Kuchens beanspruchen.

Das Institut für Handelsforschung in Köln hat schon 2013 die folgende beeindruckende Grafik eines „E-Commerce-Volumens“ von fast 1 Billion Euro errechnet.



Handel 4.0 findet innerhalb der Industrie 4.0 statt. Es sollte hellhörig machen, dass die Industriegewerkschaften jüngst eine engere Kooperation mit einer Bahngewerkschaft geschlossen haben, um beispielsweise im Automotive und Chemiesektor die neuen Wertschöpfungsmodelle überhaupt tarifpolitisch erfassen zu können.

Umgekehrt ist ein modernes Tarifsystem für ver.di deshalb unerlässlich, weil möglicherweise bald schon Betriebe relevant werden, die früher etwa als „Metall- und Elektroindustrie“ fernab ihrer Zuständigkeit lagen.

„Gute digitale Arbeit“, von der Gewerkschafts-Chef Frank Bsirske gerne spricht, findet in Landwirtschaft und Gastronomie, Industrie und Handel gleichermaßen statt. E-Commerce ist eine Ausprägung guter digitaler Arbeit, die in der Organisation von Baustellen, dem Verkauf von Mode und FMCG, oder dem Angebot von Harzen für die Herstellung von Philipp Starck-Stühlen aus durchgefärbtem Polypropylen stattfindet. Ein neuer Ausbildungsberuf muss zukunftsfähig sein.

E-Commerce-Kaufleute müssen daher von allen Unternehmen ausgebildet werden können, in denen E-Commerce-Wertschöpfungsmodelle tägliche Praxis sind. Dies gilt es in der Ausbildungsverordnung und im Rahmenlehrplan zu berücksichtigen. Es wäre fatal, die Hürde der obligatorischen Ladenkasse in anderer Form erneut einzuziehen.

Summary

Germany is lauded for it’s twofold way of professional education, combining apprenticeship with school-based tuition. However, the disruptive impact of e-commerce has not yet found its way into training regulations. Instead of taking e-commerce to the heart of retail, as of today apprenticeship in retail covers e-commerce in only 60 of about 900 hours - not even obliging students to learn e-commerce at all. Even worse, pureplay online retailers, by lack of physical stores and cashier desks, are not allowed to educate retail salesmen. The German e-Commerce Association bevh convinced other trade association to vouch for a new training profession of „E-Commerce Salesmen“. The challenge is to create a new set of training regulations that apply for every industry taking part in the e-commerce value chain. The old-fashioned way of introducing separate concepts of „salesmanship“ for integrated brand–manufacturers, wholesale or store–based retail needs to be overcome as customers wildly shop from every partner in the retail value chain.