verfasst von Sebastian Schulz
Damit hatte ich nicht gerechnet: Als ich kurz vor dem zeremoniellen Ringetausch meiner Ehefrau in spe die Idee eines (ideellen) Ehevertrages mit Evaluationsklausel vorschlug, setzte ich nicht etwa die bevorstehende Hochzeit aufs Spiel. Sie fand das gut! Und warum auch nicht? Sich und den Partner nach Ablauf einer gewissen Dauer der Zweisamkeit einmal kritisch zu hinterfragen, ob das Gemeinsame wirklich noch Spaß und Sinn macht, ist allemal besser, als trübe Stimmung, Zoff und gegenseitige Blockade. Ähnliches hatten die Parteichefs von CDU, CSU und SPD wohl auch im Sinn, als sie – erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik – eine solche Evaluationsklausel (vulgo: Sollbruchstelle) in den neuen Koalitionsvertrag aufgenommen haben. Auf den Zeilen 681 bis 683 heißt es dort wörtlich: „Wir überprüfen die Einhaltung des Koalitionsvertrages: Zur Mitte der Wahlperiode Bestandsaufnahme des Koalitionsvertrages und Entscheidung, welche neuen Vorhaben vereinbart werden müssen.“ Politische Blasphemie! Von dem ungeheuren Zeitdruck, den sich die Regierungsparteien darüber selbst auferlegt haben einmal ganz zu schweigen. Denn wohlgemerkt: Der Zeitpunkt der angedachten Rekapitulation, die „Mitte der Wahlperiode“, ist der September nächsten Jahres.
Von ein/zwei groben Bugs einmal abgesehen, hält der Koalitionsvertrag für die Branche der Online- und Versandhändler hingegen wenig Aufregendes bereit. Das mit 177 Seiten recht dickleibige Werk kann man z.B. hier auf der auf Website der CDU abgerufen werden. Eine Auswahl der aus meiner Sicht für unsere Branche relevanten Passagen habe ich nachfolgend kurz zusammengestellt(die Klammerzusätze markieren dabei die Fundstelle im Text, Z=Zeile):
Digitalisierung – allgemein
Das Thema Digitalisierung ist zumindest im Sprachgebrauch des politischen Berlins angekommen. Der Begriff findet sich auf 61 Seiten, jeweils teilweise mehrfach. Die Digitalisierung wird als „Chance für Wohlstand und sozialen Fortschritt“ verstanden (Z1604). In „allen Bereichen“ soll sich Deutschland „zu einem starken Digitalland“ entwickeln. Die Wahl des Tempus zeigt, dass man an dieser Stelle offenkundig Nachholbedarf identifiziert hat. In „allen Bereichen“ ist an dieser Stelle freilich keineswegs wörtlich zu verstehen (siehe unten „Verbot des Rx-Versandhandels“). Dem üblichen Vier-Jahres-Turnus folgend, wird uns auch in diesem Koalitionsvertrag eine flächendeckende Breitbandinfrastruktur versprochen, dieses Mal angereichert mit ambitionierten Zielen bei 5G (Z1631).
Viel Kritik erntete derweil die Entscheidung, anstelle eines Digitalministeriums „nur“ eine Staatsministerin für Digitales im Kanzleramt zu installieren. Kritik, die ich nie verstanden habe. Im Gegenteil ist mir in den vergangenen Jahren nicht ein einziges überzeugendes Argument untergekommen, dass für die Einrichtung eines zig Millionen Euro teuren Ministeriums für Digitales gesprochen hätte. Ein solches Ministerium hätte was zu entscheiden gehabt? Genau gar nichts. Eine sinnentleertere Nebelkerze hätte man nicht werfen können. Und; wer heute weiterhin einer künstlichen Aufspaltung von Online- und Offline-Sachverhalten das Wort redet, redet an der Lebenswirklichkeit des überwiegenden Teils der Bürger vorbei. Ich halte die Einrichtung einer koordinierenden Instanz im Kanzleramt für absolut sinnvoll. Dass dann noch mit Dorothee Bär für das Amt der Staatministerin alles andere als eine schlechte Personalentscheidung getroffen wurde, rundet die Sache ab.
Handel – allgemein
Nach der neuen Koalition ist die Digitalisierung auch für den Einzelhandel zugleich „Chance und Herausforderung“ (Z2828). „Immerhin“, möchte man lakonisch anmerken. Und tatsächlich war, anders als noch vor vier Jahren, die Dämonisierung des E-Commerce auch bereits in den Vorentwürfen für den Koalitionsvertrag kein Thema mehr. Vermutlich um primär den Herausforderungen zu begegnen, soll ein „Kompetenzzentrum Handel“ geschaffen werden, das „konkrete Hilfestellungen für den kleinen und mittleren Einzelhandel“ leisten soll. Nach einer zunächst europaweiten Ausschreibung wird es vermutlich im Herbst dieses Jahres losgehen. Zu hoffen bleibt, dass das geplante Kompetenzzentrum mehr als nur ein weiterer Debattierclub ohne praktischen Output darstellen wird.
Ansonsten wird auch im aktuellen Koalitionsvertrag der Handel traditionell stiefmütterlich gewürdigt. Dass man sich angesichts trumpesken Protektionismus klar für offene Märkte sowie freien und fairen Handel ausspricht (Z2464), ist symbolisch freilich wichtig, am Ende aber bitte nicht mehr als eine Selbstverständlichkeit.
Verbot des Rx-Versandhandels
Als einziger echter Fremdkörper inmitten des der Digitalisierung durchaus positiv zugewandten Vertragswerkes kommt die anachronistische Idee des Verbotes des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Medikamenten daher. „Um die Apotheken vor Ort zu stärken“ setze man sich für ein entsprechendes Verbot ein (Z4574). Verwundert reibt man sich an dieser Stelle die Augen, hält doch kein einziges der durch die Lobby der stationären Apotheker vorgebrachten Argumente einer genaueren Überprüfung stand. Dass an dieser Stelle ein auch seitens der politischen Entscheider als offensichtlich europarechtswidrig erkanntes Vorhaben für die neue Legislaturperiode wieder exhumiert wurde und den Gerichten abermals die Letztentscheidung übertragen wird, wirft ein fatales Licht auf den Gesetzgeber.
Europapolitik
Dass das sog. „One-In-One-Out“-Prinzip endlich auch auf europäischer Ebene verankert werden soll, ist gut und überfällig (Z1929). Praktisch kommt heute kein neues für die Branche der Online- und Versandhändler relevantes Gesetz mehr ohne neue Informations- oder Dokumentationspflichten aus. Hier muss gerade mit Blick auf den Gesetzgebungsapparat in Brüssel dafür gesorgt werden, dass bei neuen Vorgaben zumindest durch das Abschmelzen vergleichbarer Pflichten an anderer Stelle kompensatorisch eingegriffen wird. Das Bürokratiemonster hockt längst nicht mehr unter der Berliner Reichstagskuppel, es hockt in der rue Wiertz in Brüssel. Übrigens war es der bevh, der das Thema wieder und wieder in die Diskussion eingebracht hatte, zuletzt über unsere E-Commerce-Agenda 2017. Gleiches gilt für das Vorhaben, europäische Vorgaben 1:1 umsetzen zu wollen (Z2919). Das gerade seitens des deutschen Gesetzgebers gern gewählte Goldplating, d.h. die Übererfüllung europäischer Vorgaben im nationalen Recht, gehört damit der Vergangenheit an.
Bekämpfung des Abmahnunwesens
Stichwort Compliance-Pflichten: Höchst erfreulich ist, dass die ursprünglich durch den bevh auf die politische Agenda gesetzte und sodann durch eine breite Verbändekoalition aufgegriffene Forderung nach einer Reform des Abmahnwesens Einzug in den Koalitionsvertrag gefunden hat (Z5836).
Daten(-schutz-)politik und Verbraucherschutz
Dass angesichts der Tatsache, dass ab dem 25.5. dieses Jahres mit der unmittelbar anzuwendenden, vollharmonisierenden EU-Datenschutz-Grundverordnung überhaupt ein Passus zum Thema Datenschutz im Koalitionsvertrag zu finden sein würde, ist keine Selbstverständlichkeit. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der zentrale Absatz zum Datenschutz (Z2091) dann auch einerseits als Wiedergabe des Texts der Grundverordnung („Wir wollen Datenportabilität“), andererseits als Absichtsbekundung, die schlechterdings nicht einzulösen ist. Ohnehin erscheint die nun proklamierte „innovationsfreundliche Anwendung“ der Datenschutz-Grundverordnung als nur allzu heuchlerisch. Hätte man es hiermit wirklich ernst gemeint, wäre der Gesetzgebungsprozess in Brüssel hierfür die richtige Bühne gewesen. Mit der weiterhin im europäischen Gesetzgebungsprozess befindlichen E-Privacy-Verordnung bekommt die Koalition hier nun eine zweite Chance. Den Passus, wonach sich die Regierungsparteien für eine E-Privacy-Verordnung einsetzen wollen, „die im Einklang mit der EU-Datenschutz-Grundverordnung die berechtigten Interessen von Verbraucherinnen und Verbrauchern und Wirtschaft angemessen und ausgewogen berücksichtigt“ (Z2757), sollten sich v.a. die Vertreter des Bundesjustizministeriums ausdrucken und an das ministeriale Pinnbrett heften.
Beim Verbraucherschutz soll auch in der anstehenden Legislatur überwiegend geleitet, bewahrt, genugdt und gepampert werden, auch und erst recht in der „digitalen Welt“ (Z6417). So soll etwa dynamische Preisbildung „nach klaren Regeln transparent dargestellt werden“ (Z6384). Zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher sollen „Algorithmen- und KI-basierte Entscheidungen, Dienstleistungen und Produkte überprüfbar [gemacht werden], insbesondere im Hinblick auf mögliche unzulässige Diskriminierungen, Benachteiligungen und Betrügereien“ (Z6378). Staatlich verordnetes Reverse Engineering, man darf gespannt sein. Vermittlungs-, Buchungs- und Vergleichsplattformen sollen „hinsichtlich ihrer Bewertungssysteme“ transparenter gemacht werden (Z6401). Verbunden mit einem besonderen Dank nach Wolfsburg dürfen wir uns last not least auf die Einführung der sog. Musterfeststellungsklage einrichten (Z5807). Das in Europa vorherrschende Vorsorgeprinzip, d.h. umfangreiche Informations- und Zulassungspflichten, wird mit dem v.a. aus den USA bekannten Nachsorgeprinzip, d.h. Verfahren vor Gericht, kombiniert. Das Beste aus beiden Welten also – zumindest aus der Perspektive des Verbraucherschutzes.
Arbeitspolitik
Auf dem Papier ist die Digitalisierung schließlich auch in der Arbeitspolitik angekommen. „Das Zeitalter der Digitalisierung wollen wir als Chance für mehr und bessere Arbeit nutzen“ heißt es in Zeile 2328. Selbstbestimmtere Arbeitszeit auch in tarifgebundenen Unternehmen (Z2366) und den Plänen zur Schaffung eines Rechtsrahmens für mobiles Arbeiten (Z1826) konkretisieren an dieser Stelle. Bei Förderung neuer Geschäftsmodelle soll gleichzeitig die Tarifbindung gestärkt werden. Das Reizwort der Allgemeinverbindlicherklärung sucht man im Vertrag zwischen CDU, CSU und SPD vergebens. Gut! Dem entgegen wird sich der geplante Rechtsanspruch auf befristete Teilzeit in nicht wenigen der betroffenen Unternehmen (>45 Mitarbeiter) als große Herausforderung darstellen.