verfasst von Martin Groß-Albenhausen
Mit einem Smartphone unter 5 Dollar, und das ohne Vertragsbindung oder SIM-Lock, hat der indische Anbieter Ringing Bells vergangene Woche weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Gefördert wird das Projekt unter anderem von der Regierungsinitiative „Make in India“, die mit „Democracy, Demography and Demand“ Indien zur drittgrößten Wirtschaftskraft der Welt entwickeln will.
Die Logik der indischen Regierung ist klar: Wenn jeder Zugang zu Smartphones hat und sich damit beschäftigen kann, werden Ideen, Apps und Geschäftsmodelle für den Binnenmarkt und Export folgen. Damit wirbt „Make in India“:
„Add to that a tech-savvy and educated population, skilled labour, robust legal and IPR regime, and a strong commitment to calibrated liberalization — India is a destination that German investors cannot overlook.“
Deutsche Schüler müssen ihre Smartphones vor der Schule ausschalten und dürfen sie im Unterricht in der Regel nicht benutzen; nicht selten werden die Geräte von den Lehrern eingezogen, um diverse befürchtete Mißstände (Betrugsszenarien, Mobbing etc.) im schulischen Raum zu verhindern.
Dabei ist für viele Schüler und mindestens so viele Erwachsene das Smartphone heute ein alltägliches Werkzeug geworden. Mit jeder Gerätegeneration wächst die technische Komplexität der Hardware und der Programme – und gleichzeitig wird ihre Anwendung immer einfacher. Schon vor dem Gesetz „minderjährige“ Schüler sind heute in der Lage, professionelle Software nicht nur zu bedienen, sondern damit Geschäftsmodelle zu entwickeln. Sie lernen über YouTube und nutzen im Ökosystem der Video-Plattformen Store-Fronts wie „Sellfy“, um sich gegenseitig Dienstleistungen zu verkaufen. Da sie nicht geschäftsfähig sind, werden Paysafecard-Codes zur Bezahlwährung, die auf Spiele-Plattformen wie Steam oder über Finanzdienstleister wie Paypal in geldwerte Guthaben umgewandelt werden.
Der tägliche Umgang mit einem Werkzeug führt zu einer „Entlastung“: So beschreibt der deutsche Anthropologe und Soziologe Arnold Gehlen den Vorgang, wenn ein Kind lernt, seine Hand zu benutzen. Seine Greiftechnik wird fließender und eleganter, je mehr sie sich entwickelt. Die Evolution verschleiert quasi die wachsende Komplexität, wird zur „Involution“. Indem die Nutzung selbstverständlich wird, entlastet der Mensch sich und kann die Aufmerksamkeit darauf lenken, neue Anforderungen mithilfe des Organs bzw. der Technik zu erledigen.
Komplexität und Einfachheit verschmelzen – willkommen in der Welt der „Simplexity“. Mit diesem Kunstwort haben der Pforzheimer Medien-Dienstleister Meyle+Müller und seine IT-Tochter apollon ihren „New Business Summit“ betitelt, der vergangene Woche mehr als 250 Kunden und Interessenten in die alte Versandhandelsstadt lockte. Der Preferred Business Partner des bevh schlug dabei einen Bogen von innovativen Ansätzen im „Retail Banking“ zum Automobilhersteller Tesla und seinem Ökosystem. Referenten vom Rocket Internet-Startup „Helpling“ oder Mercateo-Gründer Dr. Sebastian Wieser erläuterten, wie komplexe Interaktionen durch Digitalisierung radikal vereinfacht werden können. Am Beispiel von Amazon Dash und abgeleiteten Produkten zeigte Prof. Wolfgang Henseler von der Offenbacher Agentur Sensory-Minds, wie „Simplexity“ beim Kunden verfängt – aber auch, welche Verantwortung der Anbieter dadurch auf sich lädt: „Wenn Apple & Co. im öffentlichen Streit mit dem FBI um die Datenzugriffe unterliegen, können solche vernetzten Modelle implodieren.“ Vielleicht nicht in den USA, aber in anderen Ländern durchaus.
Vereinfachung und Verlässlichkeit bilden die Grundlagen neuer, erfolgversprechender Geschäftsmodelle. Das mag erklären, warum in einigen Bereichen die Digitalisierung in ihren ersten Ausprägungen nur schlecht vorangekommen ist, nun aber im Sprung in eine 4.0-Welt disruptiv den Markt verändert. Wenn der Vorgang der klassischen Onlinebestellung situativ mehr Mühe macht als ein Anruf, werden die Kunden nur zögerlich wechseln. Simplexity könnte hier mit Chatshopping-Modellen ansetzen, weil das bislang zwingend synchrone Beratungsgespräch zu einem asynchronen, vom Kunden kontrollierten, vollständig dokumentierten Beratungsprozess wird – und das mit einem „Werkzeug“, das im Fall von Whatsapp für viele selbstverständlich ist.
So entsteht jeden Tag „New Business“ im Kleinen und Großen. Thomas Löbel, Geschäftsführer für neue Geschäftsfelder bei der Mediengruppe Dr. Haas, erläuterte auf der Meyle&Müller-Veranstaltung folgerichtig, warum und in welcher Form sich das Unternehmen konsequent an Startups beteiligt. Gerade in etablierten Organisationen kann die Gehlen’sche Entlastung dazu führen, dass man den Sinn dafür verliert, wie mühsam man es den Kunden doch eigentlich macht. Oder man sieht nur die Hürden, die eine Veränderung in den eigenen Prozessen zu teuer machen. Startups tragen nicht die Bürde, ein laufendes System zu unterbrechen.
Der Umgang mit digitalen Technologien und „smarten“ Geräten ist längst nicht mehr den Pionieren vorbehalten. Dr. Hans-Georg Häusel von der Gruppe Nymphenburg hatte eingangs gezeigt, wie sich die Erwartungshaltung an Technologie und das korrespondierende Wertversprechen ändert, wenn die breite Bevölkerung adressiert wird. Wer einmal die Buchung einer Zugverbindung mit wenigen Touches auf einem kleinen Bildschirm erledigt hat, erwartet die gleiche Erfahrung auch bei komplexeren Aufgaben. apollon-Geschäftsführer Norbert Weckerle fasst das treffend so in Worte: „Es geht um die Kunst, die steigende Komplexität in den Geschäftsprozessen nach vorne, in Richtung Kunde, möglichst einfach zu gestalten, dadurch die Erwartungshaltung zu übertreffen und den Kunden zu begeistern!“
Oder mit Tesla-Gründer Elon Musk: „Any poduct that needs a manual to work is broken.“