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Rocket, Zalando und die Wette gegen die deutsche Handelsvergangenheit

verfasst von Martin Groß-Albenhausen

Der französische Philosoph André Comte-Sponville stellt in seinem Essay „Le Capitalisme, est-il moral?“ die Frage, wie man als Geschäftsführer agieren kann oder soll. Eine Kernaussage des Buches lautet: Von einem Geschäftsführer darf man in dieser Funktion keine moralischen Entscheidungen erwarten (geschweige denn einfordern), denn er ist in ein System eingebunden, dass per se weder moralisch noch unmoralisch ist, sondern lediglich von den Grenzen des Rechts bestimmt wird. „Corporate Social Responsibility“ steht nicht über den wirtschaftlichen und gesetzlichen Rahmenbedingungen (= Compliance), sondern drückt die freiwillige Übererfüllung dar, die selbst aber nicht moralisch, sondern ökonomisch begründet wird.

Selten sind Börsengänge so kritisch von der Presse begleitet worden wie die von Rocket Internet und Zalando. WiWo, ZDF, heute differenzierter mit Pro & Contra das Handelsblatt - fast jeder hat eine Meinung, erst recht in der Branche selbst, doch überwiegend wird dabei moralisch argumentiert, nicht auf Grundlage von (lange Zeit kaum bekannten und wirklich durchschaubaren) Zahlen.

Natürlich muss ein Geschäftsführer es mit seiner persönlichen Moral abmachen, ob und wie er den ihm möglichen Spielraum ausschöpft. Oder wann er aus Gründen „unterschiedlicher Auffassung über die weitere Geschäftsausrichtung“ den Hut nimmt. Genau so muss jeder persönlich entscheiden, ob er sein eigenes Geld dort anlegt – man muss ja auch nicht in Waffentechnologie investieren, nur weil diese hohe Renditen verspricht.

Aber für den Erfolg eines Unternehmens ist es völlig unerheblich, ob z.B. das Kopieren und Verbessern von Geschäftsmodellen einen Hautgout hat oder nicht. Solange es legal ist, exzellent exerziert wird und damit temporär einen kapitalisierbaren Wertzuwachs des Unternehmens ermöglicht, ist es ein gültiges Modell. Jeder Investor stellt die Frage, wie wettbewerbsanfällig ein Geschäftsmodell ist – warum sollte man gerade das Klonen von Geschäftsmodellen als Geschäftsmodell also verpönen, wenn ein Unternehmen darin einen Vorsprung hat? Nebenbei: „Unfair advantage“, ein Begriff aus dem Lean Canvas, ist eben nicht moralisch geprägt, sondern beschreibt genau so einen schwer aufholbaren Vorsprung.

Es ist für die Investment-Betrachtung eher schon von Bedeutung, ob dabei die Mitarbeiter unter hohem Druck arbeiten. Allerdings nicht per se, solange dies im Rahmen geltenden Rechts und ohne Zwang geschieht, sondern nur, falls dies ein potentielles Risiko für das Unternehmen darstellt. Hier ist die Bewertung schon problematischer. Ob die Überforderung der Mitarbeiter riskant ist, wird in den Aktienkurs eingepreist. Für die Samwers zu arbeiten ist kein Ponyreiten – aber genau so legendär sind die Wutausbrüche der Ballmer, Jobs, Bezos. Ob irgendwo Recht verletzt wird, entscheiden in Deutschland zu unser aller Besten Gerichte, und nicht die Wahrnehmung von Presse und Öffentlichkeit.

Für den IPO zählt die Phantasie, die Story, der Narrativ des Börsendebüts, unterlegt mit plausiblen Kennzahlen und Renditeversprechen. Wer Prospekte von Öko-Fonds gelesen hat, weiß, wie poesiefrei das erfolgen kann und muss. Die Story sieht bei Rocket Internet und Zalando (und Alibaba) völlig unterschiedlich aus.

Die Rocket Story ist keine Handels-Erzählung, sondern eine Finanz-Wette. Es geht nicht um nachhaltige Geschäftsmodelle, die über Jahre den Investoren aus dem laufenden Betrieb Erträge erwirtschaften. Es geht darum, mit viel Geld und hoher Geschwindigkeit ein Produkt mit dem alleinigen Ziel aufzubauen, es nachher zu einem höheren Wert als den aufgelaufenen Kosten zu verkaufen und so den Anlegern eine hohe Rendite zu erwirtschaften. Kann man Rocket Internet diese Story abkaufen? Zweifellos, denn genau darin sind sie erfolgreich.

Zalando muss eine ganz andere Geschichte erzählen, um die Phantasie zu stimulieren. Das Geschäftsmodell an sich muss dauerhaft einen hohen Wertzuwachs ermöglichen, auch wenn das konjunkturelle Umfeld schwierig ist. Hier geht es um operative Exzellenz und letztlich profitable Entwicklung. Glaubt man, dass Zalando in genügend operativen Aspekten besser agiert als der Wettbewerb, um in einem stagnierenden Umfeld nicht nur Marktanteile zu gewinnen, sondern im Anlagezeitraum damit auch so viel Gewinn zu machen, dass die Investitionen dadurch mit überlegener Verzinsung zurückgezahlt werden können?

In beiden Fällen wird die Erwartung an die Entwicklung des Internet und letztlich die Perspektive des gesamten Handels eingepreist. Ich vermute, dass nur sehr wenige Analysten und noch weniger Anleger die zahlreichen Faktoren überblicken, die eine Rolle spielen. Das Geschäftsmodell von Rocket Internet ist in diesem Sinne fast schon berechenbarer.

Man könnte sogar stolz darauf sein, genau wie Versender früher einmal stolz darauf waren, im Vergleich mit dem alten Lehrmeister USA die besseren, spannenderen, innovativeren Kataloge zu machen. Wenn man betrachtet, wie viele exzellente Köpfe und spannende Unternehmen aus dem Rocket-Umfeld hervorgegangen sind – in vielen Fällen ja auch ganz ohne Beteiligung des Inkubators –, dann zeigt das, welche positive Rolle die Samwers für den deutschen E-Commerce hatten. Und wie viel Schwung die Challenger in ihre schwerfälligen etablierten Handelswettbewerber gebracht haben.

Man muss nicht jede Veränderung schätzen, die sie im Markt erzwungen haben. Zweifellos aber haben Sie viele Annahmen darüber, was online möglich ist oder nicht, gründlich widerlegt. Die Customer Journey-Analyse und alle zugehörigen Neubewertungen von Display oder TV gehören genauso dazu wie schnelle internationale Skalierung. E-Commerce in Deutschland hätte sich ohne die Rocket-Investments weniger dynamisch entwickelt.

Das ist natürlich kein Grund, auf Rocket oder Zalando zu wetten. Neben einigen Tops gab es ja auch nicht wenige Flops. Die Plausibilität der Kennzahlen können Händler vermutlich einschätzen, wenigstens die Waren- oder Logistik- oder auf den Kapitaleinsatz bezogenen.

Aber wenn schon Geld in Handelsmodellen riskieren – soll man es dann in Steine investieren, oder in die „Brainware“ von denen, die Gesetzmäßigkeiten des neuen Handels besser verstehen als der Wettbewerb, und ihre Geschäfte gnadenlos danach ausrichten?

Zuletzt erschienen im Fall von Arcandor Steine wertvoller als Menschen, Kundenbeziehungen und Knowhow. Damals begründete der Insolvenzverwalter das Aus für Quelle mit der mangelnden Planbarkeit von Daten-getriebenen Online- und Distanzhandelsmodellen und verglich sie mit einem Auto, das die Windschutzscheibe verklebt und über Rückspiegel steuert.

Whose Party Now?