verfasst von Martin Groß-Albenhausen
Über die Ostertage konnte man vielfach in der Presse lesen, wie mühsam sich doch der Onlinehandel mit Lebensmitteln entwickele. Auch in den europäischen Vorreiter-Ländern liegen die Umsatzanteile im untersten einstelligen Prozentbereich. Ist der Onlinehandel am Ende kein Zukunftsweg? Ist die Lebensmittelbranche vor digitalen Umbrüchen gefeit?
Echte Disruption verspricht, einen Markt durch eine im Geschäftsmodell verankerte, für den Kunden relevante Prozessverbesserung zu knacken. Für die „Fast Moving Consumer Goods“ bietet das Pantry-Konzept von Amazon Prime die Aussicht, das Einkaufsverhalten zu verändern. Und alle warten gespannt, ob, wann und wie der größte Onlinehändler in Deutschland den Lebensmittelhandel (über das heute schon auf dem Marketplace verfügbare breite Sortiment hinaus) aufnehmen wird.
Aber vielleicht ist diese Erwartung zu sehr vom großen Rad geprägt, das Amazon Kategorie für Kategorie zu drehen vermochte. Sie unterstellt, dass die magische Formel aus hoher Logistikleistung, tiefer Sortimentierung und breiter Verfügbarkeit auch im Lebensmittel-Segment ihren Zauber ausüben wird. Verfechter der Gegenthese, dass sich auch die Giganten der Onlinewelt am Lebensmittelhandel die Zähne ausbeißen, führen das dichte Netz der stationären Supermärkte und die geringe Marge als starke Gegenargumente an.
Möglicherweise irren beide, weil erst die nächste Generation von Commerce-Anwendungen den Lebensmittel-Onlinehandel jenseits der Onlineshops und Lieferdienste erschließt. Ich spreche von Chat-Bots, die vor allem bei Facebook als ein möglicher Weg in Commerce-Anwendungen gesehen werden. Die neuen Anwendungen im Messenger werden in den Chat diktierte oder geschriebene Listen oder Projekte in Handels-Informationen übersetzen. David Marcus, Chef der Messenger-Sparte von Facebook, hat das vergangenen Herbst gegenüber dem Wired-Magazin so beschrieben
- "Look at the traditional e-commerce journey: you go to a website. You have to create an account - that's one email. You add something to your shopping cart and check out - that's another email. The package ships - that's another email. When it arrives, that's another. That's four emails that are distinct threads that are not canonical. And the only thing you can do for interactions inside an email is click on a link and go to a website, where you have to re-authenticate. It's painful on desktop, it's impossible on mobile. That's why, for the majority of online retailers, north of 60 per cent of their website traffic is mobile - but only ten to 12 per cent of checkouts are mobile. And mobile traffic will continue increasing. So the thought is, what would those interactions look like if the web and desktop had never existed?"
Marcus’ Vision ist zunächst ganz einfach: Alle eine Transaktion betreffenden Informationen in einem „Thread“. Die Intelligenz dahinter besteht jedoch darin, die unstrukturierten Informationen des Kunden mit Hilfe von künstlicher Intelligenz zu systematisieren und eine kommerzielle Antwort zu geben. Erster Nutzer wird in diesem Jahr die Fluglinie KLM sein. Der Nutzer gibt in den Messenger nur sein Ziel ein, Datum und Tageszeit und Personenzahl. KLM antwortet mit einem Buchungsvorschlag oder fragt zurück, wenn etwas unklar bleibt.
Warum sollte Facebook damit der Durchbruch im Lebensmittel-Onlinehandel gelingen, während andere mächtige Anbieter mühsam um Promille des Marktvolumens ringen?
Weil der Weg über den Onlineshop heute viel mühsamer ist als der idiosynkratische Einkaufszettel. Alle klassischen Lebensmittel-Onlineshops zwingen zur Präzisierung, wo der Mensch im Supermarkt längst die Entlastung eingeschliffener Wege genießt. Wenn auf dem Einkaufszettel „Eier“ steht, dann macht sich zunächst niemand Gedanken, ob 6er oder 10er Karton, oder vielleicht eine genaue Menge. Auch nicht ob Bio, Freiland oder Omega3. Die Entscheidung fällt spontan, oder ist implizit schon getroffen. Und es ist nun wirklich keine Usability, aus gespeicherten Einkaufslisten Produkte "abzuwählen", weil sie in dieser Woche nicht benötigt werden. Alles Krücken, kein Vergnügen.
Aber wer hat nicht schon per WhatsApp die knappe Aufforderung erhalten: „Bring bitte Chips, Pizza und eine Flasche Rotwein mit.“ Die Mehrdeutigkeit – welche Chips, welche Pizza, welcher Wein – ist zwar die erste Hürde, vor der auch der Facebook-Messenger stehen wird. Aber ein unstrukturierter Einkaufszettel lässt sich relativ einfach in eine strukturierte Liste überführen. Lebensmittel-Bestellungen sind semantisch komplexer als Flugbuchungen bei KLM, die in einem begrenzten Informationsraum erfolgen. Dennoch handelt es sich im Vergleich mit Mode um sehr klar bezeichnete Produkte mit eindeutigen Mengenbeschreibungen.
Daher braucht es nicht viel künstliche oder menschliche Intelligenz. Allerdings immer mal wieder die Rückkopplung zum Auftraggeber. Genau dafür ist ein Chat-Bot aber der bessere und skalierbarere Weg als beispielsweise das in Deutschland gescheiterte Rocket Internet-Startup Shopwings mit seinen „Personal Shoppern“.
- Und: Chat-Bots sind keine Technik von morgen und übermorgen. Schon vor dem vergangene Woche grandios gescheiterten Experiment mit "Tay" hat Microsoft für China die text-basierte Software Xiaoice entwickelt. Inzwischen nutzen angeblich mehr als 20 Mio. registrierte User diesen Bot, und das im Durchschnitt 60 Mal im Monat! Während gewöhnlich künstliche persönliche Assistenten auf 2,3 Dialoge in einer Session kommen, sind es bei Xiaoice im Mittel 23.
Aber es geht noch weiter. Ein Messenger, in den ich die bei chefkoch.de oder kochbar.de oder an einer beliebigen anderen Stelle gefundenen Rezepte als Links samt den nötigen Angaben zur Personenzahl eingebe, erledigt die lästige Aufgabe, den Einkaufszettel überhaupt zu erstellen. Eindeutige Rückfragen – hier folge ich Marcus – wirken anders als der anonyme Lieferschein des Online-Supermarkts, bei dem als erstes lapidar die „Austauschprodukte“ aufgelistet sind. Und der Bot schreibt die Gewohnheiten des Chat-Partners mit. Er weiß, dass ich Bio-Produkte bevorzuge, und wird sich künftig dann proaktiv melden, wenn er diesen Wunsch nicht erfüllen kann.
Alles nur Phantasie? Am 12. April wird Facebook auf der Developer-Konferenz f8 die Messenger-Plattform für unabhängige Entwickler öffnen.Vermutlich wird kein deutscher Lebensmittel-Händler dabei sein. Dabei könnte in dieser Art „conversational commerce“ – im Facebook Messenger oder bei Whatsapp – ein Schlüssel für den Durchbruch liegen. Denn die nächste Generation nutzt Messenger weitaus häufiger als e-Mail. Welche Eltern erreichen ihre halbwüchsigen Kinder heute noch per e-Mail?
Nicht der nächste Shop, sondern die bessere Interaktion auf Grundlage von E-Commerce-Technologie stellt eine disruptive Anwendung im Onlinehandel dar.Und richtig: es muss nicht Facebook sein – in jedem Fall aber ein starker „Messenger Bot Store“ mit hoher Verbreitung. Facebook ist da sicher nicht schlecht positioniert, und der Zukauf von Whatsapp sowie die Entscheidung, das Medium kostenlos verfügbar zu machen, waren folgerichtig.
Die Investoren jedenfalls wittern ihre Chance.
Der bevh ist auch in diesem Jahr wieder offizieller Partner der „Next Generation Food“. Das Familientreffen oder besser noch: die Denkfabrik der (e)Food-Branche findet im Rahmen der Berlin Food Week statt.