Das Jahr 2020 neigt sich dem Ende. Weihnachten liegt hinter, der Jahreswechsel vor uns. Dennoch fühlt sich in diesem Jahr alles anders an. Durch die Corona Pandemie liegt ein enorm einschneidendes Jahr - mit vielen Einschränkungen und Entbehrungen - hinter jedem einzelnen Unternehmen. Dennoch möchte die Branche der Online- und Versandhändler die neu entstehenden Chancen im Auge behalten und offen sein für das, was am Markt passiert und an Veränderungen eintritt. Wir haben daher im Sommer 2020 im Rahmen einer repräsentativen Online-Umfrage die Einstellung der Bevölkerung zum E-Commerce generell und in einzelnen Aspekten beleuchtet.
Über einige Ergebnisse und die damit verbundene Bedeutung haben wir mit Christoph Wenk-Fischer, Hauptgeschäftsführer des bevh, unter dem Stichwort „Nachhaltigkeit im E-Commerce“ gesprochen. Ein Interview von Christin Wehrstedt, bevh:
Wie sehr glaubst du, ist das Thema Nachhaltigkeit in der E-Commerce Branche angekommen? Und siehst du im Handeln der Akteure Unterschiede zwischen dem Onlinehandel und stationären Handel?
Christoph Wenk-Fischer: Zunächst einmal muss man klarstellen, dass der Onlinehandel ohnehin nicht weniger nachhaltig ist, als der klassische Stationärhandel – ganz im Gegenteil: Es ist definitiv besser für die Umwelt, 100 Päckchen in einem Auto auszuliefern, als dass 100 Autos sich in die Innenstädte oder zum Einkaufszentrum auf der „Grünen Wiese“ quälen. Und einen weiteren grundsätzlichen Vorteil hat der Onlinehandel: E-Commerce ist der Wechsel von einer oft über-angebotsgetriebenen Wirtschaft hin zur Nachfrageorientierung. Hinzu kommt, dass E-Commerce eine permanente Prozessoptimierung entlang der gesamten Wertschöpfungskette lebt; und was effektiver funktioniert, schont zugleich Resourcen. Spezifischen Optimierungsbedarf dazu hat unsere Branche bei allem Erreichten beispielsweise noch zu folgenden Stichworten: Emmissionsfreie Logistik, Vermeidung von Verpackungsmüll, CO2-neutrale IT, Etablierung von Leih- und Second Hand- Märkten sowie Wahrung der sozialen Verantwortung entlang der Lieferketten.
Im direkten Vergleich zeigt die Civey Befragung auf, dass der größere Teil der Befragten der Annahme ist, dass der stationäre Handel seiner Umwelt- und sozialen Verantwortung eher gerecht wird als der Onlinehandel. Warum glaubst du, haben die Teilnehmer so geantwortet?
Christoph Wenk-Fischer: Das liegt vor allem an einem Informationsdefizit. Dort, wo andere schon lautstark ihre kleinsten Umwelt-Schritte hervorheben, haben wir wohl zu still unseren Job der Prozessoptimierung gemacht. Hinzu kommt, dass viele der Gründerinnen und Gründer oder Beschäftigten in den E-Commerce-Unternehmen genau zu der Generation gehören, für die es eine Selbstverständlichkeit ist, sich privat und unternehmerisch seiner oder ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu sein und entsprechend zu handeln. Das ist übrigens bei einem „Klassiker“ unserer Branche, der Otto Group, schon seit Ende der 70er Jahre der Fall. Michael Otto, heute selbst Mitglied des „Club of Rome“, wurde für seine unternehmerische Karriere von dessen damals schon sehr weitsichtigen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ dauerhaft geprägt. Nachhaltigkeit ist seit Jahrzehnten Top-Unternehmensziel der weltweit agierenden Hamburger. Über solche inspirierenden Menschen und fortschrittliche Ideen müssen wir bei aller Bescheidenheit mehr und öfter berichten.
Hinzu kommt, dass unsere Unternehmen für ihre Kunden nicht so offen und greifbar sind, wie ein Laden an der Ecke – bei dem aber auch keiner wirklich in die Mülltonne oder auf die Laderampe schaut. Was von unserer Tätigkeit für viele nach außen sichtbar ist, sind Lieferfahrzeuge, Kartons und eine oft auf bedauerliche, aber punktuelle Probleme ausgerichtete mediale Berichterstattung. Nehmen wir einen Fernsehbericht über die Entsorgung nicht mehr verwertbarer Retouren als Beispiel: Viele Kunden und auch Politikerinnen und Politiker glaubten danach, dass Retouren grundsätzlich vernichtet würden, was sich schon aus wirtschaftlicher Sicht kein Unternehmen leisten könnte. Aber so entstand ein moderner Mythos, gegen den wir mit unserem jüngst veröffentlichten bevh-Retourenkompendium wissenschaftlich valide Fakten setzen. Und genauso müssen wir weiterarbeiten.
Knapp 80 Prozent der Befragten haben sich altersübergreifend positiv darüber geäußert, dass man im Onlinehandel Ware ohne Begründung binnen zwei Wochen zurückschicken kann. Stellt dies nicht einen Widerspruch zum Wunsch der Verbraucher nach mehr Nachhaltigkeit dar?
Christoph Wenk-Fischer: Das ist zum einen ein Zeichen dafür, dass Verbraucher in ihren Anforderungen und in ihrem Handeln nicht immer konsequent sind. Zum anderen ist es aber auch völlig in Ordnung, dass Verbraucher ein uneingeschränktes Widerrufsrecht haben. Das gab es als freiwilligen Service übrigens schon Mitte des letzten Jahrhunderts, zu Zeiten des klassischen Katalogversandhandels. Die Interaktiven Händler können gut damit umgehen, Retouren sind Teil einer rollierenden Lagerhaltung und fast alle retournierten Artikel können nach Rückgabe gleich wieder verkauft werden – wie die anprobierte Ware aus der Umkleidekabine im Stationärhandel. Retouren bedeuten also nicht unbedingt „Umweltsünde“ und Kunden können beides haben: Verbraucherschutz und Nachhaltigkeit. Wir müssen aber weiter daran arbeiten, den Missbrauch dieses Rechts zu verhindern und den Retourenprozess beispielsweise durch wiederverwendbare Verpackung und emissionsfreie Zu- und Rücksendung noch besser zu gestalten.
Rund 60 Prozent der befragten Teilnehmer sind weiterhin der Meinung, dass der Onlinehandel dazu führt, dass zu viel eingekauft wird. Wie bewertest du diese Aussage?
Christoph Wenk-Fischer: Natürlich ist es einfach, sicher und bequem online einzukaufen. Dass dies dazu führt, dass insgesamt mehr eingekauft wird, lässt sich aus den vorhandenen Daten aber gar nicht ableiten. Denn was das Umsatzvolumen des Handels insgesamt angeht, so wächst dies inflationsbereinigt seit Jahren praktisch nicht. Was größer wird, ist der Anteil des Onlinehandels daran. Und selbst, wenn es so wäre, dass insgesamt durch den Onlinehandel mehr eingekauft würde: Wollen wir den Kundinnen und Kunden im Umkehrschluss vorschreiben, was und wieviel sie einkaufen dürfen und den Einzelhandel als „Motor der Konjuktur“ schwächen? Allerdings freue ich mich in dem Zusammenhang über einen zunehmend wichtigen Aspekt des E-Commerce: Die sogenannte „Sharing Economy“; also das Ausleihen oder Weitergeben von Dingen über Online-Plattformen oder -Marktplätze.
Gerade im Hinblick auf die verschiedenen Altersgruppen, die im Handel kaufen, haben besonders die jüngeren Konsumenten sich kritisch gegenüber dem Kaufverhalten im E-Commerce geäußert. Kann man hier von einem Change des Konsumverhaltens der jüngeren Generationen sprechen?
Christoph Wenk-Fischer: Das würde ich persönlich sehr begrüßen. Oben habe ich schon ausgeführt, dass viele Unternehmerinnen und Unternehmer im E-Commerce selbst so „ticken“. Schön, wenn also das Konsumentenverhalten und die Konzepte im E-Commerce gut zusammenpassen und dort, wo dies noch nicht der Fall ist, die öffentliche Erwartung zum weiteren Ansporn für die Unternehmen wird. Leider hat es viel zu lange gedauert, bis das Thema „Nachhaltigkeit“, sei es über „Fridays for Future“ oder andere Formen des vor allem von der jungen Generation getragenen Protestes auch in die „Große Politik“ Einzug gefunden haben.
Vielen Dank für das Interview.