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Mehr Selbstbestimmung der europäischen Digitalwirtschaft durch Allianzen

Ein Gastbeitrag von Jan Oetjen, CEO 1&1 Mail & Media Applications SE mit den Marken WEB.DE und GMX

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt kommen die Gewinner der europäischen Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) aus Amerika. Amazon, Facebook und Google können ihre Dominanz weiter ausbauen, indem sie durch die zahlreichen Nutzerkontakte über Suche, Social Network, Messenger oder Shopping App weitreichende Einwilligungen zu ihren Datenschutzbedingungen erzielen. Bereits heute nehmen Google und Facebook zwei Drittel der weltweiten Ausgaben für Online-Werbung ein. Im E-Commerce dominiert Amazon, obwohl nationale Anbieter in Sachen Preis und Service durchaus konkurrenzfähig sind.

Durch die dominante Stellung der US-Dienste fließt ein Großteil des Umsatzes bei Werbung und Handel an nationalen Anbietern vorbei. Damit nicht genug – aus Asien drängen neue Plattformen auf den europäischen Markt. Doch auch weitere Faktoren sind für die deutsche Wirtschaft kritisch, etwa die Datenkonzentration bei diesen Plattformbetreibern sowie die Machtposition beim Setzen der Standards in den digitalen Schlüsseltechnologien. Weder der Nutzer noch ein europäisches Unternehmen, das am digitalen Leben teilnehmen möchte, kann sich den Vorgaben und Standards der GAFA (Google, Apple, Facebook, Amazon) entziehen. So ist bereits die Einrichtung eines Smartphones ohne Google- oder Apple-Konto kaum möglich. Die neuen Datenschutz-Regelungen verstärken diese Entwicklung noch einmal dramatisch, denn der Umgang mit Nutzerdaten wird durch sie erheblich erschwert. Wer keine eingeloggten Nutzer hat, wird sich schwer tun, die notwendigen Opt-ins dauerhaft einzusammeln und seine Shop-Besucher im Netz wiederzufinden.

Offenkundigstes Beispiel ist die Verwendung von Cookies. Überall im Internet tauchen seit dem 25. Mai Cookie-Laschen oder komplette Einwilligungsseiten auf, die der Nutzer vor Ansicht einer Website bestätigen muss. Dumm nur, dass oftmals die Cookies automatisch geblockt oder gelöscht werden und das Spiel von vorne beginnt. Das nervt die Nutzer zunehmend, weil es das Surf-Erlebnis stört und die Nutzer mittelfristig eher animiert, in den geschlossenen Ökosystemen von Facebook oder Amazon zu bleiben, denn die holen die Einwilligung für all ihre Dienste einmal zentral beim Log-in ein und müssen den Nutzer danach nicht mehr behelligen.

Hinzu kommen technologische Entwicklungen, die den Bedeutungsverlust der Cookies zusätzlich fördern. Die Multi-Screen-Nutzung ist Alltag geworden, doch mit dem Cookie lässt sich kein Cross-Device-Targeting bewerkstelligen. Zudem unterdrücken Adblocker sowie die Browser – auch hier bestimmen Google und Apple die Spielregeln – die Verwendung von Cookies. Werden aktuell über drei Viertel der Nutzerinformationen noch in Cookies gespeichert, wird sich dies ab 2019 im Rahmen der digitalen Neuordnung stark auf die digitale Identität des Nutzers verlagern. Kurz gesagt: Wir befinden uns am Ende der Cookie-Ära und am Anfang der ID-Ära.

Steht ein Wandel der Digitalwirtschaft bevor und wie können Unternehmen davon profitieren?

In der kommenden ID-Ära gelten neue Spielregeln. Das heißt nicht, dass der Cookie vollkommen verschwindet, aber er verliert seine dominante Stellung. Nutzer werden stattdessen ihre Identität über dauerhafte Log-ins angeben und verwalten – anders werden die erforderlichen Nutzerzustimmungen und Profildaten nicht für den Nutzer transparent und die Unternehmen nutzbar sein. Um nicht bei jedem Dienst einen neuen Account anlegen zu müssen, wird es Single Sign-on-Lösungen geben müssen. Diese ermöglichen es dem Nutzer, sich mit einem Log-in über verschiedene Dienste zu bewegen.

Wer von diesem Wandel profitieren will, braucht Allianzen. Um mit der digitalen Identität nicht eine weitere Schlüsseltechnologie an die großen US-amerikanischen Wettbewerber zu verlieren, haben Mediengruppe RTL Deutschland, ProSiebenSat.1 sowie United Internet die European netID Foundation gegründet. Die Initiatoren führen mit der netID einen offenen und rechtssicheren Standard ein, der die technischen Standards für die übergreifende ID des Nutzers regelt. Dezentral, transparent und europäisch sind die Säulen des Konzeptes. So wird die Governance über eine neutrale Stiftung orchestriert, die der Branche offen steht. Die Single Sign-on-Lösung wird sich durch eine transparente und standardisierte Erfassung von Daten und Nutzereinwilligungen differenzieren. Wichtiger Punkt ist die Offenheit – jedes Unternehmen hat die Möglichkeit, sich dem Standard anzuschließen und ihn aktiv mit zu bestimmen und zu gestalten. 

Wie verändert die netID den Markt?

Die Schaffung eines unabhängigen, offenen Standards für die digitale Nutzeridentität ist die letzte Chance für die europäische Digitalindustrie, sich nicht vom Zugang zum Nutzer abschneiden zu lassen. Es kann nicht das Ziel sein, dass Google, Apple, Facebook und Amazon als alleinige Gatekeeper fungieren. Die Chancen der neuen Datenschutzregeln zu nutzen, gelingt nur in übergreifenden und offenen Initiativen, die die europäische Industrie auf Augenhöhe mit internatio­nalen Playern bringen. Die gesamte Digitalindustrie aus Online-Händlern, Werbekunden, Agenturen, Publishern und Vermarktern hängt zusammen. Sie kann auch nur eine begrenzte Anzahl von Systemen und Stan­dards unterstützen. Gleichzeitig besitzen nur wenige Anbieter alleine eine für den Markterfolg kritische Größe, deshalb sind Kooperationen entscheidend für die Zukunftssicherung der europäischen Digitalindustrie.

Bei Allianzen gilt: je größer, desto besser. Daher möchte die European netID Foundation so viele Partner wie möglich gewinnen. Um weiterhin in der Digitalwirtschaft bestehen zu können, gerade in Anbetracht der neuen EU-Datenschutzrichtlinien, müssen die Unternehmen zusammenarbeiten und europäisch denken. Dies haben nicht nur die Gründungspartner verstanden. Sowohl national als auch international ist das Interesse an einem Beitritt zur European netID Foundation sehr groß. So konnte die Zalando Group als Partner gewonnen werden. Mit 60 Unternehmen aller Branchen führen wir derzeit Gespräche über eine Kooperation. Auch im europäischen Ausland ist das Interesse groß, so hat z.B. der österreichische Handelsverband bereits eine Kooperation mit der netID geschlossen um den Standard auch in Österreich zu verbreiten.

Wie wird die Stiftung den Handel, insbesondere den E-Commerce, beeinflussen?

Die Etablierung eines gemeinsamen europäischen Log-in-Standards hat zahlreiche Vorteile für die digitale Industrie und insbesondere für den Online-Handel. Sowohl die Schlagkraft als auch die Reichweite steigen für die Unternehmen enorm. Insgesamt erreichen die Initiatoren bereits zum Start der netID im Sommer rund 50 Millionen Unique User, von denen bereits ca. 35 Mio. einen netID-Account haben. So können sich z.B. alle monatlich aktiven Nutzer von WEB.DE und GMX im DACH-Raum direkt mit ihrer E-Mail-Adresse und dem dazugehörigen Passwort beim Partner anmelden und bei einer Bestellung ihre Adressdaten mit einem Klick aus dem WEB.DE oder GMX Konto übertragen.

Der Nutzer kann jederzeit selbst bestimmen, welche Daten verwendet werden sollen und welche nicht – die Datensouveränität liegt komplett bei den Usern. 

Gleichzeitig bringt die netID auch der Branche wieder mehr Selbstbestimmung, denn die Standards werden in Europa gesetzt und nicht in den USA oder Asien.