verfasst von Christoph Wenk-Fischer
„Jetzt haben wir Chaos!“ Sofort nach Abbruch der Sondierungsgespräche hieß es das. Warum? Aber zunächst, was ist eigentlich Chaos? Wikipedia hilft: „Ein Zustand vollständiger Unordnung oder Verwirrung (Wirrwarr) und damit der Gegenbegriff zu Kosmos, dem griechischen Begriff für die (Welt-) Ordnung oder das Universum.“
Und wir haben jetzt also Chaos? Am 24. September haben nach einem geordneten und eher ruhigen Wahlkampf die Wählerinnen und Wähler die Zusammensetzung des Deutschen Bundestages verändert. Das nennt man eine demokratische und nicht eine chaotische Entscheidung. Die Partei, die in den Jahren ihrer Mitregierung am meisten verloren hat, hat das als Auftrag verstanden, so nicht weiterzumachen. Das war zwar keine demokratische Entscheidung, aber erwartbar und somit auch nicht chaotisch.
Die anderen demokratischen Parteien haben sich daraufhin in Sondierungsgespräche begeben. Sie wollten ausloten, ob es einen gemeinsamen politischen Nenner zwischen ihnen gibt, der Basis für eine gemeinsame Regierung bieten würde. Das war ein sehr geordnetes Verfahren und alles andere als chaotisch, soweit man das als Außenstehender beurteilen kann.
Da der gemeinsame Nenner sich nicht finden ließ, wurden die Gespräche abgebrochen. Das finden die Befürworter einer „Jamaika-Koalition“ schade, deren Gegner freuen sich. Beide Seiten sind jedoch nicht marodierend durch die Straßen gezogen, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen – auch das Chaos blieb aus.
Aber die Regierung hat ja keine Mehrheit mehr? Na und: Regierung ist Exekutive, ausführendes Organ. Ob die Regierung die Mehrheit hat oder nicht, ist nicht maßgeblich. Schließlich haben wir ein gerade neu gewähltes Parlament, eine Legislative, in der es darum geht, Mehrheiten für politische Entscheidungen zu gewinnen. Das ist alles zu bester Ordnung festgelegt in unserem Grundgesetz und der übrigen Rechtsordnung, in der auf der einen Seite noch die Europäische Union und auf der anderen auch die Bundesländer ein gewichtiges Wörtchen mitzureden haben – immer noch kein Chaos also.
Aber Wirtschaft braucht doch Sicherheit! Ja, schon, aber die einschlägigen Aktienindices, als ein Typ von Indikatoren für die Stimmung in der Wirtschaft, sind nach dem Abbruch der Sondierungen keinesfalls abgestürzt. Vielmehr schloss der DAX gestern mit plus Nullkommafünf Prozent und hält sich auch heute über 13.000 Punkten. Die Wirtschaft hat also noch kein Vertrauen verloren – kein Chaos ersichtlich. Übrigens hatte der DAX seine größten Kursstürze immer in Zeiten stabiler politischer Mehrheiten für die jeweils amtierende Bundesregierung. Das aber lässt wiederum keinen Umkehrschluss zu.
Wenn also hier kein Chaos zu sehen ist, blicken wir in die Welt, in den Kosmos: Regierungen ohne politische Mehrheiten sind bei uns zwar auf Bundesebene nicht, sehr wohl aber auf Länderebene immer wieder Praxis und auch in Europa oder weltweit immer wieder zu finden. Das vielleicht mal auszuprobieren wird schon nicht so chaotisch werden.
Aber wenn das nicht klappt muss vielleicht neu gewählt werden und das soll bis zu 92 Millionen Euro nach Schätzung des Bundesinnenministeriums kosten. Ja, das kann sein, dass das der Preis für die Demokratie diesmal ist. Aber so groß diese Summe auch ist, die Briten lassen sich ihre für mein Empfinden anachronistische Monarchie allein jährlich einen vergleichbaren Betrag kosten.
So bin ich unaufgeregt und voll Optimismus, dass wir nicht im Chaos versinken und rate allen zu mehr Gelassenheit mit diesen uns neuen Erfahrungen gelebter Demokratie. Ist es nicht wunderbar, dass alle diejenigen, die gerade wegen der so empfundenen Statik und Berechenbarkeit der bisherigen breiten Mehrheiten den etablierten Parteien oder sogar der Politik insgesamt den Rücken gekehrt haben, mit diesen Lebenszeichen einer echten Streitkultur, zurückgewonnen werden können?