Nicht noch ein Artikel über ChatGPT...und erst recht keiner, der von der semantischen Schönschwätzerin selbst aus Millionen Artikeln mit Wissenstand 2021 eloquent abgefasst wird. Denn es geht nicht um ChatGPT. Sondern um semantische Modelle, die Digitalwirtschaft, wie wir sie kennen – und die Wege des Kunden auf die Websites.
ChatGPT kann niemandem sagen, welches Kostüm er oder sie wo kaufen sollte. Aber die Software weiß, welche Modetrends aktuell existieren und kann auch sagen, wie man sich zu welcher Gelegenheit anziehen soll. In der Suchmaschinenwelt „vor GPT 3.5“ hatten die Onlinehändler gerade erst gelernt, dass sie zwei Strategien in einer Plattform-Welt verfolgen können: Produktdatenmarketing für die Google, Bing, DuckduckGo und Marktplätze (lower funnel) – oder Upper Funnel Marketing in Social Media bzw. Content Marketing.
Content Marketing bedeutete, Wissen bereitzustellen, um die Kunden frühzeitig beim „Zero Moment“ bzw. in der initialen Phase von Avinash Kaushiks „See-Think-Do-Care“-Framework zu erreichen. Content Marketing heißt auch, viel Wissen indexierbar zur Verfügung zu stellen, um so in der SERPs sichtbar zu werden und einen ersten „Touch“ des Kunden einzuwerben. Die Optimierung solcher Customer Journeys beschäftigt tausende Agenturen und machte die Google-Gründer im vergangenen Jahr zu zwei von acht „Centimilliardären“.
Nun verbindet Microsoft seine Suchmaschine mit dem semantischen Modell von Open AI und liest all den indexierten Content aus, der von vielen Unternehmen in der Hoffnung kreiert wurde, über die Clicks und Conversions einen Payback zu erhalten. Und künftig wird bei immer mehr Upper-Funnel- und auch vielen Lower Funnel-Suchen ein dialogischer Prozess entstehen, der ohne Klicks funktioniert.
So weit, so schlecht für viele Unternehmen im „klassischen“ Onlinemarketing. Und für Larry und Sergey. Wenngleich es nicht so ist, dass Google (und Amazon und Microsoft und Facebook und Apple und erst recht die asiatischen Pendants) den Moment nicht haben kommen sehen. Eine Antwort für ihr nunmehr „legacy business model“ haben sie nicht wirklich gefunden, und um so weniger, je mehr das Kerngeschäft von den alten Customer Journeys abhängt.
Wenn ChatGpt eine Zeitenwende darstellt, dann vielleicht gerade deshalb, weil viele Geschäftsmodelle "legacies" werden könnten. Googles Legacy ist das Werbegeschäft, Amazons Legacy der „Retail as Commodity“ im Gegensatz zu "Erlebniskauf" - und semantische Modelle könnten ein anderes digitale Einkaufserlebnis ermöglichen. Microsoft hat sich rechtzeitig von Distraktoren getrennt und auf B2B (mehr als B2C) gesetzt. Meta und Apple nähern sich von zwei Seiten dem Metaversum - die nächste Hardware- und die nächste Netzwerk-Generation. Apple hat als erster „Ökosysteme“ gebaut (iTunes und Apps), Facebook die „Viralität“ organisiert.
Gespannt können wir alle darauf schauen, wie die EU-Regulierung auf ChatGPT schaut. Denn der DSA sollte gerade verhindern, dass Digitalkonzerne Wissen abschöpfen und die Unternehmen, die den Content gesät haben, nicht an den Früchten teilhaben lassen. Chat GPT erinnert da sehr an die Diskussionen, die geführt werden, seit Google erstmals Antworten über Rich Snippets und Rich Cards direkt zugänglich machte.
Aber was bedeutet das für die E-Commerce-Unternehmen?
Onlinehändler müssen weiterhin ihren Content offen zugänglich machen – für sie ist das Problem allerdings geringer als für Zeitungen, Zeitschriften und alle, die im klassischen Modell als Publisher Einkünfte über Anzeigenwerbung erzielen und dafür auf Traffic angewiesen sind.
Im Kerngeschäft der Onlinehändler ist zunächst nicht zu erwarten, dass die Produktsuchen kurzfristig massenhaft zu Bing abwandern. Noch ist Chat GPT ein Sprachmodell, der Kaufprozess aber – und das hat Amazon genau wie Google festgestellt – ein visueller und vergleichender Vorgang. Anders gesagt: Einkaufslisten über Alexa funktionieren. Aber komplexere Produktsuchen brauchen die klassische Suche.
Noch. Das bedeutet aber nicht, dass nicht gerade hier eine Wachstumschance für den Onlinehandel liegen könnte. Nicht Bing und ChatGPT sind das zentrale Thema, sondern GPT 3.5 und andere semantische Modelle, die den klassischen stationären „Beratungskauf“ nun im digitalen Raum sprachlich hervorragend automatisiert abbilden können.
Die Aufgabe für E-Commerce-Anbieter liegt darin, die „Logik“ von GPT 3.5 zu verstehen. Wie interpretiert die künstliche Intelligenz Datensets, die Onlinehändler ihnen zur Verfügung stellen? Welche „weichen“ Informationen führen zu unterschiedlichen Aussagen – etwa zu einer anderen Gewichtung oder Priorisierung von Artikeldaten je nach Kontext der Kundenanfrage? Wird ein „Generative Pretrained Transformer“-Modell künftig unterschiedliche Buying Personas erfassen und eine Verkaufsargumentation dynamisch anpassen?
Rückblickend wird man vielleicht einmal feststellen, dass es nicht das Jahr 2023 war, das eine deutliche Veränderung im E-Commerce mit sich gebracht hat. Sondern die Jahre seit der Einführung von virtuellen Assistenten und der Beschäftigung mit Chat-Bots, die von der stotternden Keyword-Logik zu einer Beschäftigung mit menschlicher Sprache geführt haben.
Deshalb ist es auch noch zu früh, einen Abgesang auf die Centimilliardäre des Jahres 2023 zu starten. Sie haben seit Jahren genau zu dieser Veränderung aufgerufen, sie in ihrer SERP-Logik eingebunden: Nicht Keyword-Stuffing, sondern bestmögliche Beantwortung von impliziten und expliziten Kundenfragen als Leitlinie. Nur konnte Google sein Geschäftsmodell nicht mit aller Macht disruptieren. ChatGPT ist deshalb genau der Herausforderer, den die Branche brauchte.