Blog:

KI im Einzelhandel, oder: Vom Versuch, einen Beinbruch mit mRNA zu heilen

Nun also KI. KI oder „Ey Ei“ ist die neue Fehlstelle im deutschen Einzelhandel, und die muss mit Fördergeldern behoben werden. Denn klar ist: wer jetzt nicht digital aufrüstet, verspielt die Zukunft. Diese gewinnt nur, wer der eigenen eine künstliche Intelligenz zur Seite stellt.

Etwa, um Ladendieben damit auf die Spur zu kommen oder Einkaufsmengen besser zu berechnen. Das sind Projekte, die dem Einzelhandel einleuchten. Und für die er Geld ausgibt. Oder ausgeben würde, wenn er es hätte. So haben es die Standesvertretung der Einzelhändler und eine Boutique-Unternehmensberatung herausgefunden. Folgt die Argumentation, solche Projekte aus einem schon öfter geforderten mehreren hundert Mio. Euro Digitalisierungsfonds zu finanzieren.

So weit so richtig, wichtig, nötig. Aus Sicht des E-Commerce möchte man mit dem Kopf nicken – „intelligenter Handel“ ist gefragt.

Allerdings hat die Umfrage auch ermittelt, dass der stationäre Einzelhandel KI nicht als drängendes Thema für sich erkennt. Aus gutem Grund – einen Beinbruch heilt man auch nicht mit mRNA-Wirkstoffen. KI löst keines der fünf Kernprobleme des stationären Handels.

  1. KI bedeutet Daten auf Testosteron. Keine Daten – keine KI. Der weit überwiegende Anteil der stationären Händler hat 2-3 Angestellte – und keine strukturierte Datenerfassung. Eine Viertel Million Händler ist heute noch offline! Selbst der kleinste Onlineshop verfügt heute über mehr Daten. Nur: Ein Händler ohne Daten kann dem Kunden zwar etwas verkaufen. KI ohne Daten kann dem Händler dabei aber nicht helfen. Die Datenlücke im stationären Handel ist das Problem, für das KI keine Lösung darstellt.
  2. Machine Learning erkennt Korrelationen und rät darauf aufbauend in Iterationen immer besser, was passieren könnte. Aber KI braucht für die Validierung von Hypothesen viele „Ereignisse“. In den einzelnen Geschäften des stationären Handels fallen zu wenig relevante Ereignisse an, um aus Korrelationen Kausalitäten abzuleiten – und danach zu handeln. Denn der stationäre Handel hat in der Breite der Geschäfte zu wenige Kunden, als dass die KI eine spezifische Empfehlung für das richtige Produkt für die richtigen Kunden im richtigen Laden geben könnte. Online lassen sich Kunden, die man nicht kennt, durch KI besser berechnen als offline. Die geringe Frequenz in vielen Lagen des stationären Handels ist das Problem, für das KI keine Lösung darstellt.
  3. KI wird um so besser, je mehr Varianz auf allen Seiten herrscht. Ihre Stärke liegt in der Berechnung der besten Zuordnung von möglichst unterschiedlichen Items zueinander. Wenn in den Beziehungen nur auf der Seite der Nachfragenden große Vielfalt und auf der Seite des Angebots geringe Auswahl besteht, kann KI kaum bessere Ergebnisse erzielen als ein normaler beobachtender Akteur. Der Onlinehandel hingegen bietet der KI das ideale Spielfeld. Eine dort trainierte KI wird regelmäßig bessere, für den Kunden treffendere und damit „überlegene“ Ergebnisse liefern als eine KI, die in die räumlichen und zeitlichen Grenzen stationärer Geschäfte gezwungen wird. Der Sortimentsnachteil des stationären Handels ist das Problem, für das die KI keine Lösung darstellt.
  4. Das Englische unterscheidet zwischen „relationship“ als der in Daten messbaren Beziehung und „rapport“ als der gefühlten Nähe zu einem anderen Menschen. KI kennt Käuferprofile, aber keine Käufer. KI ignoriert alle Faktoren, die auf Grundlage von tausenden Interaktionen keinen hinreichenden Erklärungsbeitrag für die nächste Handlung eines beobachteten Individuums geben. Auf dieser Grundlage kann KI emotionslos „relationship“ simulieren – das Gefühl, den Kunden gut zu kennen. Der stationäre Handel hingegen verkauft von Mensch zu Mensch. Die Kunst des guten Verkäufers besteht darin, in 95 Prozent der Fälle „rapport“ zu simulieren, auf der Kundenbindung fußt. Gerade diese immer öfter mangelnde emotionale Bindung zwischen stationärem Händler und Kunde ist das Problem, für das KI keine Lösung darstellt.
  5. KI verbessert Entscheidungen, die auf mess- und berechenbaren Faktoren beruhen. Preis, Farbe, Stil, Schnitt, Gebrauchskosten, auch Transaktionskosten kann KI als Entscheidungsparameter heranziehen. In 95 % der Fälle ist der Kauf im Onlinehandel für den Kunden daher rational die bessere Entscheidung. Auch Beratung und Service können auf Distanz und mit KI-Unterstützung hervorragend organisiert werden. Der stationäre Händler hat seine Notwendigkeit für den Kunden zum großen Teil deshalb verloren, wenn er ausschließlich in klassischen Bevorratungs- und Sortimentierungs-Logiken denkt. KI wird aber niemals die Frage für den Anbieter beantworten, was seine eigene Motivation und das Wertversprechen an die Kunden ist. Das erschütterte Geschäftsmodell des stationären Handels ist das Problem, für das KI keine Lösung darstellt.

Die fünf durch KI nicht lösbaren Probleme zeigen, dass für die Zukunft des stationären Handels wesentliche Hebel gerade dort liegen, wo KI nicht greift: in der Nahbarkeit (nicht der „Nähe“), die sich aus geteilten Werten ergibt und in emotionalen Erlebnissen bestätigt, durch die Bindung entsteht. Das mag nicht für die großen Filialunternehmen oder Handelshäuser gelten, die als einzige allein über genug Daten verfügen. Aber sogar und gerade diese erfolgreichen Unternehmen, die man überall sieht, kämpfen heute damit, bei den Kunden keine Neugier und keinen emotionalen Kitzel mehr zu erzeugen. Auch sie haben ein Problem, das KI nicht lösen kann.

Natürlich gibt es die oben genannten nützlichen KI-Anwendungen im stationären Handel. Ladendiebe besser zu erkennen, ist eine wunderbare Spielwiese für KI. Die Erkenntnisse lassen sich generalisieren und allen stationären Händlern zur Verfügung stellen. Aber ob sie staatliche Investitionen von Millionen Euro wert sind, ist fraglich. Die erste Software, die damit experimentierte, bediente sich kostenlos verfügbarer Open Source Technologie. Generiert aus staatlich unterstützter Grundlagen- und Anwendungsforschung an der Carnegie-Mellon-Universität, die KI für unterschiedliche Szenarien entwickelt hatte. So konnte der Händler vor drei Jahren bereits mit Hilfe öffentlicher Gelder entscheiden, ob er einmalig 2000 Euro für eine Kamera und dann lediglich 30 Euro im Monat für den monatlichen Service bezahlt. Wem das in seiner normalen Betriebskostenrechnung zu teuer ist, weil der konkrete Nutzen ökonomisch trotz eines Schadens von 3,7 Mrd. Euro (übrigens einschließlich „Inventurdifferenzen“) im Jahr nicht gegeben scheint, der braucht auch keine KI-Fördergelder. Freilich, „lediglich 30 Euro im Monat“ war vor wenigen Jahren vielen kleinen stationären Händlern auch der managed Service eines Verkaufs über große Onlineplattformen nicht wert, obwohl er unmittelbaren Umsatz erzielte.

Das Beispiel Ladendiebstahl zeigt jedenfalls: KI ist nicht zwingend teuer. Viele der beim Machine Learning eingesetzten Algorithmen müssen nicht mehr geschrieben werden – sie stehen in den Cloud-Angeboten der großen amerikanischen und chinesischen Anbieter zur Verfügung. Die Kunst besteht darin, das „Domänenwissen“ – etwa die Kenntnis über typische Entscheidungsprozesse, die zum Kauf innerhalb eines bestimmten Sortiments dazugehören – mit den Algorithmen zu verbinden. Geht der Händler aber diesen Weg, ist er auf dem besten Weg zum neuen Handel, denn er wird online seinen blue ocean finden. Kopf schlägt Kapital.

KI-Forschung ist für lebendige Kommunen wichtig – aber die KI ist nicht der Zopf, an dem sich der stationäre Handel aus dem Sumpf ziehen könnte. KI für Kommunen kann viel über Bewegungen im Raum, über Zeiten und Nutzenszenarien in der Bürgerschaft herausfinden. Die Politik könnte dann mit starken Argumenten etwa gegen starre Öffnungszeiten kämpfen. Oder Lieferzonen und Pick-Points entwickeln. Aber keinesfalls wird die KI dabei helfen, überkommene Geschäftsmodelle und veraltete Denkmuster über die Zeit zu retten.

Das, so scheint es, spürt der kleine Händler – und ist zurecht skeptisch.