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Ist E-Commerce der Krisengewinner?

Das Jahr 2020 neigt sich dem Ende. Die Vorweihnachtszeit, und damit verbunden auch die wichtigste Zeit für den Handel, ist eingeläutet. Dennoch fühlt sich in diesem Jahr alles anders an. Durch die Corona Pandemie liegt ein enorm einschneidendes Jahr mit vielen Einschränkungen und Entbehrungen hinter jedem einzelnen Unternehmen. Dennoch möchte die Branche der Online- und Versandhändler die neu entstehenden Chancen im Auge behalten und offen sein für das, was am Markt passiert und an Veränderungen eintritt. Der bevh hat daher im Sommer 2020 im Rahmen einer repräsentativen Online-Umfrage die Einstellung der Bevölkerung zum E-Commerce generell und in einzelnen Aspekten beleuchtet.

Über einige Ergebnisse und die damit verbundene Bedeutung haben wir mit Gero Furchheim, Präsident des bevh, unter dem Stichwort „Ist der E-Commerce der Krisengewinner?“ gesprochen. Ein Interview von Christin Wehrstedt, bevh:



E-Commerce ist mehr als angekommen in den deutschen Haushalten. Dies belegt auch ein Ergebnis der vor kurzem vom bevh durchgeführten Studie mit dem Meinungsforschungsinstitut Civey. Deutlich über 80 Prozent der befragten Teilnehmer begrüßen, dass es Onlineshopping gibt. Dennoch hat noch über ein Drittel der Befragten auch ein schlechtes Gewissen, wenn es online anstelle im Laden einkauft. Wie erklärst du dir dieses Phänomen?

Gero Furchheim: Die Menschen genießen die Auswahl und Leistungsfähigkeit des Onlinehandels. Aber zugleich lesen sie überall, dass dieser Schuld sei am Sterben der Innenstädte. Wir wissen, dass viele Händler nicht trotz, sondern Dank Internet und E-Commerce überleben. Und wir sehen auch, dass Onlinehändler erfolgreich stationäre Geschäfte eröffnen. Aber dieser differenzierte Blick ist nicht für jeden möglich.

Die Wissenschaft nennt das „kognitive Dissonanz“ – und der Mensch spürt das als schlechtes Gewissen. Als Akteure im E-Commerce sehen wir vor allem die Chancen. Nicht nur für uns Unternehmer und unsere Mitarbeiter, sondern insbesondere für die Kunden. Für sie bieten wir mehr Auswahl, mehr Komfort und mehr Versorgungssicherheit. Und wir arbeiten jeden Tag daran, noch mehr Kunden von den Vorteilen zu überzeugen. Die Corona-Pandemie hat hierfür Chancen geboten, weil manche Menschen erstmals – aus der Not – auf den E-Commerce zugegriffen haben. Wir wollen sie auch in normalen Zeiten als Kunden behalten und begeistern.



Trotz der großen Akzeptanz gegenüber dem E-Commerce zeigt die Studie auch, dass sich der größere Teil der Befragten dennoch für strengere Regelungen für den Onlinehandel gegenüber dem stationären Handel ausspricht. Wie kann aus deiner Sicht die E-Commerce Branche hier unterstützt werden, um die Bedingungen für alle Handelskanäle auch in der Wahrnehmung der Verbraucher gleichzustellen?

Gero Furchheim: Vielen Kunden ist nicht bewusst, dass schon jetzt strengere Regeln für den E-Commerce gelten, als für den stationären Handel – beispielsweise in Hinblick auf das Widerrufsrecht, das Verbraucher schützen soll. Alle Regeln, die für fairen Wettbewerb sorgen, begrüße ich. Wenn ausländische Händler Plattformen ausnutzen, um den Umsatzsteuerpflichten auszuweichen, dann ist das nicht in Ordnung. Aber: Gerade in den letzten beiden Jahren sind viele Lücken geschlossen worden und wir sind auf einem Niveau angekommen, bei dem fairer Wettbewerb herrscht. Wer jetzt noch schärfere Regeln fordert, hat entweder nicht verfolgt, was sich in der letzten Zeit geändert hat oder will Barrieren gegen Leistungswettbewerb aufbauen, um alte, liebgewonnene Strukturen zu erhalten. Das ist vielleicht menschlich nachvollziehbar, aber nicht die Idee unserer sozialen Marktwirtschaft, die uns so viel Wohlstand gebracht hat. Akzeptanz erhält der E-Commerce, wenn die Menschen, die hinter unserer Branche stehen, mehr Sichtbarkeit erhalten. Das Wesen des E-Commerce ist, dass diese Menschen aber weniger in Erscheinung treten als im stationären Handel. Dies macht sie und ihre Leistungen aber nicht weniger wertvoll. Als Branche haben wir hier noch Aufgaben in der Kommunikation, obwohl wir schon seit langem für offenen Dialog und Transparenz stehen, beispielsweise durch Projekte wir das Weißbuch Nachhaltigkeit oder ganz aktuell ein wissenschaftlich fundiertes Retourenkompendium.

Gerade in den vergangenen 8 Monaten der Corona Pandemie war die E-Commerce Branche der „Möglichmacher“, für den Kauf der verschiedensten Waren. Geschäfte waren zum Teil über längere Zeit geschlossen und der E-Commerce gab den Verbrauchern zumindest ein kleines Stück Normalität zurück. Auch neue Nutzergruppen kamen hinzu und entdeckten diesen Kanal für sich. Warum glaubst du, hat sich in der Befragung dennoch der größere Teil der Teilnehmer für eine Bevorzugung des stationären Handels gegenüber dem Onlinehandel ausgesprochen?

Gero Furchheim: Traditioneller Handel wird oft gleich gesetzt mit dem inhabergeführtem Fachhandel in der Innenstadt. Der steht aber tatsächlich seit Jahrzehnten unter Beschuss durch Disounter, Shoppingmalls und auch den E-Commerce. Wichtiger als die Verklärung des persönlichen Kontakts und der Tradition finde ich die tatsächlichen Unterschiede in Beratung, Qualität und Zuverlässigkeit – und die gibt es sowohl stationär wie online.

Neuerungen müssen sich immer gegen Widerstände durchsetzen. Abwehr gegen Neuerungen und Beharrungskräfte stecken in der Natur der Menschen. Die Abstimmung mit den Füßen, nämlich der konsequente Zulauf zu dem E-Commerce, der uns seit vielen Jahren zweistellige Wachstumszahlen ermöglicht, zeigt aber, dass am Ende nicht diffuse Gefühle sondern praktische Abwägungen zählen. Und hier kann der E-Commerce mit seinem Gesamterlebnis punkten.

Welches sind aus deiner Sicht die größten Herausforderungen, um den hier aufgezeigten Widerspruch in der Wahrnehmung zwischen Onlinehandel und stationärem Handel zu neutralisieren?

Gero Furchheim: Zweifellos müssen wir den E-Commerce aus dem Verborgenen in seiner Vielfalt an die Öffentlichkeit bringen. Er muss in Gänze noch mehr Teil der Normalität werden, wie der kleine Kaufmannsladen, die Inhalte in Schulbüchern, das Taschengeld, mit dem man im Spielzeugladen Selbständigkeit erlernt. Gerade die Heranwachsenden unserer Zeit nehmen den „Einkaufsbummel“ heute nicht mehr als so wertvoll wahr wie die Eltern, aber sie stellen auch besonders kritische Fragen zur Nachhaltigkeit – eben weil sie als „digital Natives“ ihre Normalität nicht einfach hinnehmen, sondern gestalten wollen.

Rückblickend auf ein schwieriges Jahr 2020 und natürlich auch im Hinblick auf das kommende Jahr 2021: Welches werden aus deiner Sicht die größten Herausforderungen, aber auch Chancen für die E-Commerce Branche sein?

Gero Furchheim: Die Folgen der anhaltenden Corona-Pandemie werden uns noch das ganze kommende Jahr hindurch beschäftigen. Die Herausforderung wird für uns als Verband sein, eine faire Regulierung für den Handel zu erreichen. Denn aktuell werden auf europäischer und nationaler Ebene mit dem „Digital Services Act“ und „Digital Markets Act“, aber auch mit der e-Privacy-Regulierung Weichen für die nächsten Jahre gestellt. Es wäre fatal, wenn hier mit der Elle der Vergangenheit gemessen würde. Wir brauchen ein level playing field, aber wir sollten uns im Klaren sein, dass die Regeln innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft unsere globale Wettbewerbsfähigkeit nicht beeinträchtigen dürfen. Natürlich ist es gut, wenn Teilnehmer aus Drittstaaten sich hierzulande an den europäischen Goldstandard halten. Aber die größte Freihandelszone der Welt ist gerade in Asien entstanden. Sie ist für unsere Wirtschaft von allerhöchster Bedeutung. Wenn unser Goldstandard dazu führt, dass wir mangels Daten weniger Exzellenz in Zukunftsthemen wie Künstliche Intelligenz, Machine Learning und Internet of Things entfalten, dann wäre das fatal.

Der „Industrial E-Commerce“ ist heute schon größer als der Online-Einzelhandel. Er gilt als Boom-Markt der Zukunft. Wir sehen heute schon an Beispielen aus Asien, dass Wertschöpfungsketten ganz anders entstehen. Auch deutsche Maschinen- und Anlagenbauer spielen hier ganz vorne mit. Dieser neue „End-to-End-Commerce“ wird jetzt gestaltet. Wir werden uns im Wahlkampf dafür stark machen, den E-Commerce als normalen Teil der Versorgungsinfrastruktur und auch darüber hinaus zu gestalten. Staatliche Förderung sollte in bleibende, für alle zugängliche Projekte gehen, nicht in die Konservierung tradierter Lebensentwürfe und Geschäftsmodelle.

Vielen Dank für das Interview.