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"Eine Polsterzone für Menschen mit Behinderung gibt es nicht“

Bei der Inklusion von Menschen mit Behinderung scheinen manche Unternehmen nur das halbleere Glas zu sehen. Genauer hinzusehen, lohnt sich aber: Sowohl Bewerber kaufmännischer E-Commerce-Berufe als auch Quereinsteiger bringen hervorragende Voraussetzungen für den Onlinehandel mit. Und im stressbelasteten Arbeitsalltag macht es mitunter kaum noch einen Unterschied, ob jemand eine Behinderung hat. Wir sprachen mit Eva Dobner und Oliver Kahn vom Versandhändler Irseer Kreis Versand sowie Jochen Kunert vom Berufsförderungswerk München darüber, wie Inklusion zur Stärke wird, was man auf dem Weg dorthin beachten sollte und wo die Grenzen liegen.


Die Tätigkeitsfelder im Onlinehandel können sehr unterschiedlich sein. Wo liegen die Grenzen? Gibt es Tätigkeitsbereiche, die für Menschen mit Behinderungen besser geeignet sind als andere? 

Kahn: Menschen mit Behinderungen können heutzutage in nahezu in allen Bereichen arbeiten. Wegen der digitalen Transformation bieten sich da riesige Chancen auch dort, wo das vorher gar nicht denkbar war – entweder, weil immer mehr Prozesse durch die Technik bereits vorgedacht werden oder weil die Technik dabei unterstützt, Prozesse fehlerfrei durchzuführen. Ich verstehe natürlich, dass die Digitalisierung in anderen Bereichen viele Unternehmen vor Herausforderungen stellt. Für die Inklusion im Unternehmen öffnet Digitalisierung aber deutlich mehr Türen, als sie zumacht.

Kunert: Das kann ich nur bestätigen. Wir bilden unsere Absolventen so aus, dass sie als vollwertige Arbeitskräfte beschäftigt werden können. Viele Einschränkungen gibt es nicht. Dabei hilft uns, dass wir in den vergangenen Jahren angefangen haben, in der Ausbildung verstärkt mit künstlicher Intelligenz zu arbeiten, so dass auch Assistenzsysteme im Arbeitsalltag eingesetzt werden können.

Wie wichtig ist KI in der Inklusionsarbeit bereits?

Kunert: Wir treiben momentan die Projekte „KI Assist“ und „KI Impulsiv“ unter anderem gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Künstliche Intelligenz voran. Es geht darum, dass wir die Grundlage schaffen, dass man mit KI die Handicaps von Menschen kompensiert und Unterstützungssysteme zur Verfügung hat, die Menschen mit Behinderung genauso produktiv wie jeder andere auch in Unternehmen einsetzbar machen.

Werden wir genauer, Herr Kunert. Wie bilden Sie aus und welche Erfahrungen machen Unternehmen, die BFW-Absolventen übernehmen?

Kunert: Unsere Absolventen leisten schon während der Ausbildung in den Unternehmen Praktika ab. In dieser Zeit sammeln beide Seiten bereits Erfahrungen miteinander. Die scheinen auch sehr gut zu sein. Zum Ende der Ausbildungsrunde 2023 hatten im Schnitt 54 Prozent der Absolventen schon einen Job. Ein halbes Jahr später waren es 86 Prozent und nach einem Jahr 92 Prozent.

Anfangs haben uns viele Unternehmen gefragt, ob Menschen mit Handicaps denn nicht viel öfter krank seien und ob sie denn wirklich so viel leisten können. Diese Bedenken sind mittlerweile ad acta gelegt. Bei den meisten Leuten sehen Arbeitgeber gar nicht, dass diese eine Beeinträchtigung mitbringen. Wichtig ist aber immer, dass die Unternehmen von Beginn an offen für Inklusionsarbeit sein müssen.

Bleiben wir beim Thema Offenheit: Auf welche Bedürfnisse von Kolleginnen und Kollegen mit Behinderungen sollten Unternehmen eingehen können?

Dobner: Eine Voraussetzung ist ein wertschätzender Umgang, natürlich auch faire Bezahlung. Auch Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung kann bei Menschen mit Behinderung eine größere Rolle spielen. Und dann sollte sehr darauf geachtet werden, Arbeitsbereiche stärkenorientiert zu vergeben. Wir haben zum Beispiel einen Mitarbeiter, der Bürokaufmann war, bis er mir erzählte, dass Telefonate mit anderen Menschen für ihn schwierig geworden seien. Es stellte sich heraus, dass er dafür aber sehr talentiert mit Zahlen arbeitet. Bis nächstes Jahr macht er deshalb eine Weiterbildung zum Datenexperten im E-Commerce. Das zeigt: Wenn man auf die Bedürfnisse von Mitarbeitenden flexibel reagiert, kann daraus ein „Win-Win“ entstehen.

Wie sieht es bei der Arbeitsplatzgestaltung aus, gibt es Besonderheiten zu beachten?

Kahn: Wir können mit der Digitalisierung heute so zielgerichtet arbeiten, da spielt es oft keine große Rolle mehr, ob jemand eine Beeinträchtigung hat. Gerade beim Thema Technik muss allerdings darauf geachtet werden, keine neuen Barrieren aufzubauen. Genau aus diesem Grund haben wir zum Beispiel ein ERP-System, mit dem auch wirklich alle integriert arbeiten können. Das heißt, dass wir personell auch einmal einen Wechsel vornehmen können, ohne dass es Kolleginnen oder Kollegen dadurch schwerer gemacht wird. Jeder kann mit der Software des anderen arbeiten.

Kunert: Es gibt das Vorurteil, dass jemand der hinter dem Rechner sitzt, zwangsläufig sehr viel Stress aushalten muss. Das ist aber nicht per se der Fall. Die Mitarbeitenden müssen sich aber nicht wie im Ladengeschäft mit Kunden an der Kasse auseinandersetzen und haben die Möglichkeit, ohne große Einschränkungen auch einmal von zu Hause auszuarbeiten.

Trotzdem: Der Handel ist bekannt dafür, dass auch unter hohem Druck gearbeitet werden muss.

Kunert: Einen völlig druckfreien Job gibt es nicht. Ich halte es auch für einen völlig falschen Ansatz, die Menschen deshalb mit Glaceehandschuhen anzufassen, zumal es immer auch solche gibt, die sich Druck gerne stellen. Ich glaube auch nicht, dass Menschen mit Beeinträchtigung mehr darunter leiden müssen als andere. Der größte Druck sollte in der Regel nicht bei denen entstehen, die ausführen, sondern beim Management, das die Verantwortung hat, dass der Laden weiterläuft.

Herr Kunert, das Berufsförderungswerk hat sich wohlüberlegt dazu entschieden, auch das Weiterbildungs-Zertifikat zum E-Commerce Kauffrau bzw. Kaufmann als IHK-Abschluss anzubieten. Was sind die Programminhalte?

Kunert: Die Qualifikation richtet sich an Menschen mit kaufmännischem Hintergrund und wurde auch mit Unterstützung des bevh bei uns eingeführt. Zum Zertifikat gehört die grundlegende Ausbildung im Umgang mit dem Backend eines Webshops, genauso wie die Erfassung und Beurteilung des Warenkreislaufes, die Abwicklung von Retouren und mehr. Wir bilden zudem in mehreren ERP-Systemen aus, auch mit SAP, obwohl sich viele kleine und mittelständische Betriebe das im Alltag gar nicht leisten können.

Hinzu kommt, dass unsere E-Commerce-Lehrinhalte keineswegs nur auf das Zertifikat beschränkt sind. E-Commerce findet heute überall statt. Auch in den anderen kaufmännischen Ausbildungen bringen wir deshalb bei, was es bedeutet, im Onlinehandel zu arbeiten.

Frau Dobner, bewerben sich bei Ihnen viele, die eine Ausbildung zur Kauffrau / Kaufmann im E-Commerce haben?

Dobner: Mitunter – die beruflichen Hintergründe unserer Mitarbeitenden sind aber weitaus vielfältiger. Wir haben Quereinsteiger die vorher Maurer, Friseure oder Innengestalter waren, aber auch Leute, die vorher in großen Konzernen gearbeitet haben. Worauf es uns zuerst ankommt, ist immer die Geschichte, die die Menschen mitbringen. Danach schauen wir uns in einem Praktikum an, wo wir Stärken sehen, die wir einsetzen können. Wir haben zum Beispiel einen Kollegen, der als Handwerker ausgebildet ist und bei dem sich herausstelle, dass er ein ausgesprochener Beratungsexperte ist, wenn es um Arbeiten mit Flexkleber oder Modelliermasse geht. So ein ‚Match‘ zu finden ist aber ein geduldiger Prozess, der auch nicht immer funktioniert – da muss man realistisch sein.

Wie erleben Sie Menschen mit Behinderung das erste Mal im Bewerbungsprozess?

Dobner: In der Regel haben wir es mit Menschen zu tun, die bereits Erwerbsbiografien vorweisen und eine klare Vorstellung haben, dass sie bei uns etwas leisten wollen und ihre Stärken einsetzen möchten. Wir bekommen aber auch gesagt, was sie von uns brauchen, um sich bei uns wohlzufühlen.

Der Anfang ist gemacht, man hat sich kennengelernt – Welche Ratschläge würden Sie Unternehmen geben, die Menschen mit Behinderung danach einsetzen wollen?

Kahn: Vorurteilsfrei ranzugehen. Wenn die Stelle mit der Qualifikation des Menschen zusammenpasst, ist es nicht wichtig, ob jemand eine Behinderung hat. Man sollte immer eine Umgebung schaffen, in der Menschen sich wertgeschätzt fühlen und sinnstiftend arbeiten, dann wirkt sich das positiv auf die Zusammenarbeit aus.

Kunert: Menschen mit Behinderungen sollten nicht schlechter, aber eben auch nicht besser genommen werden als andere. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass es keine Polsterzone gibt. Wenn jemand nicht motiviert ist oder sich mit dem Arbeitsumfeld nicht verträgt, dann gibt es ernste Gespräche mit dem- oder derjenigen, wie mit jeder anderen Kollegin oder Kollegen auch.

Mit Blick auf eigene Erfahrungen: Gibt es eine einfache Faustformel, um als Inklusionsunternehmen erfolgreich zu sein, Frau Dobner?

Dobner: Auch inklusive Betriebe müssen unternehmerisch gut geführt sein. Wir sind seit 35 Jahre am Markt und mussten uns in dieser Zeit wie jedes andere Unternehmen Vorteile erarbeiten. Sozialromantisches Handeln per se hilft da nicht weiter. Auch wir müssen uns nach dem Markt richten. Auch wir müssen vorausschauend im Einkauf und stark im Vertrieb unterwegs sein und uns immer ‚nach der Decke strecken‘.  

Was uns als Inklusionsbetrieb erfolgreich macht, ist die Flexibilität unserer Mitarbeitenden – gerade in schwierigen Zeiten. Da ist ein Vertrauen, sich auf Dinge einzulassen und mitzugehen. Das ist eine Stärke, die ganz klar von der besonderen Kultur im Unternehmen kommt. Die Frage ist für mich daher eher: Wie kann man als Unternehmen erfolgreich sein, ohne inklusiv zu sein?
 

Unterstützende Stellen für Unternehmen:

Arbeitgebern, die Menschen mit Behinderung einstellen möchten, stehen vielfältige Beratungen und Förderungen zu Verfügung. Finanzielle Unterstützung können aus dem Budget für Arbeit, Eingliederungshilfen und Förderungen durch das Inklusionsamt in Anspruch genommen werden. Anlaufstellen für Informationen, Beratung und Weiterbildungsangebote zum Thema Inklusion sind das zuständige Inklusionsamt, die Agentur für Arbeit/Jobcenter, die bag if (Bundesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen) oder die FAF (Fachberatung für Arbeits- und F­irmenprojekte gGmbH).