Ein Gastbeitrag von Rechtsanwältin Evelyn Schulz, Leiterin des Schwerpunktbereichs ‚Lebensmittelrecht‘ bei Noerr und Expertin des bevh-Arbeitskreises Lebensmittelversand
Worum geht‘s?
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat heute ein grundlegendes Urteil zum Irreführungsschutz bei Lebensmittelverpackungen erlassen.
Die Entscheidung erging in einem Verfahren, das der Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) vor den deutschen Gerichten gegen die Firma Teekanne angestrengt hatte. Teekanne hatte einen Früchtetee unter der Bezeichnung „FELIX HIMBEER-VANILLE ABENTEUER“ in den typischen Pappfaltschachteln mit Beuteltee vertrieben. Neben der genannten Bezeichnung waren auf der Frontseite der Verpackung u. a. Himbeeren und Vanilleblüten abgebildet. Es fanden sich dort ferner die Angaben „Früchtetee mit natürlichen Aromen“ sowie ein grafisch gestaltetes Siegel mit der Angabe „nur natürliche Zutaten“ in einem goldfarbenen Kreis. Auf einer Seitenfläche fand sich zudem die Angabe „Früchteteemischung mit natürlichen Aromen – Himbeer-Vanille-Geschmack“. Tatsächlich – und das ist unstreitig - enthielt der Tee keine Bestandteile von Himbeere oder Vanille und auch keine Aromen aus Himbeere oder Vanille, sondern lediglich natürliche Aromen, die für einen Himbeer- bzw. Vanillegeschmack sorgten. Das auf einer weiteren Seitenfläche befindliche Zutatenverzeichnis gab dies durch die Angaben „natürliches Aroma mit Vanillegeschmack“, „natürliches Aroma mit Himbeergeschmack“ und das Fehlen von „Himbeere“ und „Vanille“ als Zutaten richtig wieder.
Was ist das besondere an der EuGH-Entscheidung?
In früheren Verfahren hatte der EuGH sehr stark die Relevanz des Zutatenverzeichnisses betont. In Fällen, in denen sich die zutreffende Zusammensetzung eines Lebensmittels aus dem Zutatenverzeichnis ergebe, sei die Gefahr einer Irreführung als gering einzustufen. Es sei davon auszugehen, dass der mündige Verbraucher die ihm gebotene Informationsmöglichkeit im Zutatenverzeichnis wahrnehme (so etwa EuGH C-465/98 „d’arbo“).
Von dieser Rechtsprechung hat sich der EuGH mit dem vorliegenden Urteil nicht ausdrücklich, aber doch inhaltlich deutlich distanziert. Er betont zwar immer noch, dass die mutmaßliche Erwartung eines normal informierten, angemessen aufmerksamen, verständigen Durchschnittsverbrauchers relevant sei, die dieser u. a. in Bezug auf die Qualität des Lebensmittel hege. Er ergänzt aber nun, dass es dabei „hauptsächlich darauf ankommt, dass der Verbraucher nicht irregeführt und nicht zu der irrtümlichen Annahme verleitet wird, dass das Erzeugnis … eine andere Eigenschaft als in Wirklichkeit hat“. Das auf der Verpackung angebrachte Zutatenverzeichnis könne – so der BGH heute – für sich genommen nicht ausschließen, dass die konkrete Art und Weise der Etikettierung die Gefahr einer Irreführung begründe. Eine Irreführung könne insbesondere auch dann vorliegen, wenn das Zutatenverzeichnis selbst richtig und vollständig sei. Entscheidend sei dabei der Gesamteindruck der Etikettierung. Abschließend nennt der EuGH konkrete Kriterien, welche u.a. zur Beurteilung des Gesamteindruckes heranzuziehen seien, nämlich „die verwendeten Begriffe und Abbildungen sowie Platzierung, Größe, Farbe, Schriftart, Sprache, Syntax und Zeichensetzung der verschiedenen Elemente auf der Verpackung“.
Im Ergebnis führt also nach dem EuGH ein korrektes Zutatenverzeichnis nicht aus der Irreführung heraus, wenn der Gesamteindruck der Verpackungsgestaltung im Übrigen einen falschen Eindruck hervorruft oder auch nur missverständlich ist.
Ist damit die Teekanne-Verpackung verboten?
Der EuGH selbst kann in der Sache nicht abschließend entscheiden. Er kann den nationalen Gerichten lediglich Leitlinien für die Auslegung des harmonisierten europäi-schen Rechts an die Hand geben. Die Entscheidung des Einzelfalls anhand dieser Kriterien obliegt den nationalen Gerichten, hier dem BGH. Dieser wird nun die oben ge-nannten Kriterien auf den konkreten Fall anzuwenden haben.
„Zwischen den Zeilen“ kann man wohl herauslesen, dass der EuGH die konkret in Rede stehende Verpackung aufgrund der Vielzahl der Hinweise auf Himbeere und Vanille sowie „natur“ hier selbst für irreführend halten würde. Er hat die Verpackungselemente, auf die es seines Erachtens nach ankommt (Bezeichnung, Abbildungen, Angaben zu „natürlichen Aromen“) konkret herausgearbeitet und in den von den nationalen Gerichten anzuwendenden Kriterien gespiegelt.
Was den Vorlagebeschluss des BGH angeht, so lässt auch dieser bereits eine recht klare Tendenz erkennen, dass der BGH eine Irreführung aufgrund des Gesamtein-drucks annehmen wollte. Dies klang im Vorlagebeschluss bereits an, wenn der BGH dort ausführte, dass die Aufmachung des Produkts so ausgestaltet sei, dass sie geeignet sei, „auch bei einem angemessen gut informierten und angemessen aufmerksamen und kritischen Verbraucher den unrichtigen Eindruck zu erwecken, dass die natürlichen Aromen, die für den Geschmacke des Tees… mitbestimmend sind, aus solchen Früchten bzw. Pflanzen gewonnen werden.“ Und – fast noch klarer: „Die Aufmachung des beanstandeten Produkts der Bekl. ist zudem geeignet, den … Verbraucher davon abzuhalten, von den Angaben im auf der Produktverpackung – wesentlich kleiner – wiedergegebenen Verzeichnis der Zutaten Kenntnis zu nehmen, aus denen sich der wahre Sachverhalt ergibt.“
Jedoch sah sich der BGH an einer dahingehenden Entscheidung durch die bisher stark auf das Zutatenverzeichnis abstellende EuGH-Rechtsprechung gehindert. Dieses Be-denken hat der EuGH nun ausgeräumt. Nach alledem scheint es naheliegend, dass der BGH im konkreten Fall eine Irreführung aufgrund des Gesamteindrucks der Verpackungsgestaltung annehmen wird. Jedenfalls wäre es schon sehr verwunderlich, wenn der BGH nach dem türenöffnenden EuGH-Urteil seine im Vorlagebeschluss recht deutlich geäußerte Rechtsauffassung nun noch einmal um 180 Grad wenden würde.
Gilt das alles auch unter der neuen Lebensmittelinformationsverordnung (LMIV)?
Das EuGH-Urteil bezieht sich auf die Richtlinie 2000/13/EG, das ist die frühere Le-bensmittel-Etikettierungsrichtlinie. Diese war im deutschen Recht durch die Lebens-mittelkennzeichnungsverordnung (LMKV) umgesetzt. Seit dem 13.12.2014 wurde die Etikettierungsrichtlinie durch die unmittelbar geltende Verordnung (EU) 1169/2011 (Lebensmittelinformationsverordnung, LMIV) abgelöst. Auch wenn der EuGH dies nicht ausdrücklich geprüft oder gar festgestellt hat, gelten die vom EuGH in der heutigen Entscheidung niedergelegten Kriterien auch unter der LMIV. Denn der Zweck der Etikettierungsrichtlinie einerseits und derjenige der LMIV andererseits unterscheiden sich nicht: Beide betonen das Recht der Verbraucher auf (korrekte) Lebensmittelinformationen und die Bedeutung des Täuschungsschutzes. Auch an den Vorschriften zum Zutatenverzeichnis hat sich nichts geändert, was für die Beurteilung der Irreführungsgefahr relevant wäre.
Wer ist betroffen?
Die Entscheidung betrifft sowohl Hersteller wie auch Händler von Lebensmitteln. Zwar ist nach der LMIV die Primärverantwortung für die Lebensmittelinformation demjenigen Lebensmittelunternehmer zugewiesen, unter dessen Namen oder Firma das Lebensmittel vermarktet wird, der also auf der Verpackung erscheint (Art. 8 Abs. 1 LMIV). Dessen ungeachtet besteht gemäß Art. 8 Abs. 3 LMIV eine wesentliche Händlerpflicht darin, keine Lebensmittel abzugeben, von denen der Händler aufgrund der ihm vorliegenden Informationen weiß oder annehmen muss, dass die Lebensmittel dem Lebensmittelinformationsrecht und weiteren Anforderungen einzelstaatlicher Rechtsvorschriften nicht entsprechen. In Fällen wie dem vorliegenden kann der Händler aber durchaus – nämlich am Zutatenverzeichnis – erkennen, dass der Tee keine Bestandteile von Himbeer und Vanille – einschließlich natürlicher Himbeer- bzw. Vanillearomen – enthält. Er kann ferner erkennen, dass dessen ungeachtet auf der Verpackung herausgehoben mit Himbeer- und Vanille-Abbildungen und den anderen genannten Informationen geworben wird.
Deshalb ist wohl davon auszugehen, dass Gerichte künftig auf Basis der LMIV in Fällen wie in dem vorliegenden nicht nur die Hersteller und Etikettierer für verantwortlich halten, sondern daneben auch einen Verstoß des Nur-Händlers gegen das Abgabeverbot nach Art. 8 Abs. 3 LMIV annehmen würden.
Eine zumindest kostenmäßige Risikoabwälzung kann der Händler dadurch erreichen, dass er im Verhältnis zu seinen Lieferanten die Verantwortung für die korrekte Etikettierung in vertraglichen Vereinbarungen ausschließlich dem Lieferanten zuweist. Dies entbindet ihn jedoch nicht von seiner „verwaltungsrechtlichen“ Verantwortung, d. h. er ist dadurch nicht vor Beanstandung durch die Behörden geschützt, auch wenn Behörden sich erfahrungsgemäß eher an die etikettierenden Hersteller halten mögen. Der Nur-Händler kann sich ebenfalls nicht davor schützen, von Wettbewerbern oder Verbänden auf Unterlassung in Anspruch genommen zu werden.
EuGH, Urteil v. 04.06.2015, Az. C-195/14
BGH, Beschluss v. 26.02.2014, Az. I ZR 45/13