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Gelegenheit macht Diebe...

Gelegenheit macht Diebe, weiß der Volksmund. Und mit Dieben hat es der Distanzhandel schon immer genau so zu tun wie die Kollegen mit stationärem Geschäft. Die einen stellen freundliche Mitarbeiter mit breiten Schultern an den Sensoren-bewehrten Eingang, nutzen Kameras oder schulen wachsame Mitarbeitende auf der Fläche, die typisches Langfinger-Verhalten erkennen. Die anderen setzen auf digitale Erkennung von Betrugsmustern – Risikosteuerung oder Fraud Prevention.

Wer lange im Online- und Versandhandel aktiv ist, kennt seine Pappenheimer. Er kann typische Transaktionsmuster sowie riskante Warengruppen- und Bestellkombinationen schnell erkennen. Die Systeme greifen früh ein, um bewusste Fehlschreibungen von Adressen zu elimieren. Je nach Geschäftsmodell können Pakete noch quasi bis zur Gitterbox aus dem Versand gezogen werden, wenn zum Beispiel eine kaskadierende Bestellung innerhalb eines Tages Misstrauen erweckt.

Aber klar ist auch, dass der Erfolg des Versandhandels in Deutschland auf zwei Besonderheiten beruht: dem „Kauf auf Probe“ und dem „Kauf auf Rechnung“. In vielen Warengruppen ist diese besondere Zahlungsweise unerlässlich, um im Wettbewerb zu bestehen – auch wenn der Rechnungskauf (wie ich für unser bevh-Retourenkompendium analysiert habe) einer der wesentlichen Treiber von Auswahlbestellungen mit korrespondierenden „happy returns“ ist.

In den Medien wird derzeit von erheblichem Betrug im Onlinehandel gesprochen, der zum Teil durch bandenmäßig organisierte Kriminelle begangen wird. Was im stationären Handel geht (wo die sog. „Inventurdifferenzen“ 1 Prozent des Gesamtumsatzes ausmachen), geht eben auch im Onlinehandel. Die oben genannten Besonderheiten scheinen zum Diebstahl geradezu einzuladen. Und deshalb, wird überlegt, müsse der Onlinehandel doch vielleicht Entschädigung leisten für den Aufwand, den der Betrug bei der Strafverfolgung verursacht. Aber ist das auch so?

Zunächst zu den Zahlen – wer Alarm schlägt, sollte auch das Risiko bewerten.

Für Berlin ist von 20.000 laufenden Betrugsermittlungen in diesem Jahr die Rede. Dem stehen mindestens 73 Mio. Paketsendungen aus dem Onlinehandel gegenüber. Die Zahl ist von 2019, noch vor dem Anstieg durch Corona. Wir reden also über
0,27 Promille. Man kann einwenden, dass nicht alle Betrugsvorfälle zur Anzeige kommen. Und dass eigentlich nur Bestellungen mit Rechnungskauf (letztes Jahr
ca. 20 Prozent der Aufträge in Berlin) als Maßstab gelten könnten. Aber auch dann sind wir nur bei gut 1,3 Promille, also noch weit unter 1 Prozent aller Käufe auf Rechnung in der Bundeshauptstadt.



Umgekehrt weiß jeder Händler, dass er einen oft zweistelligen Prozentsatz an Warenkorbabbrüchen durch das Angebot von Rechnungskauf abwenden kann. Dieser steht heute noch für 19,5 Prozent aller Bestellungen im E-Commerce. Rein kaufmännisch ist es also weiterhin ratsam, diese Zahlungsart einzusetzen. Zwar haben Paypal, AmazonPay, Sofortüberweisung, Paydirekt und andere digitale Payment-Varianten mit einer Nutzungsquote von 36,5 Prozent die führende Rolle im Onlinehandel noch vor der Lastschrift (21,3 Prozent) eingenommen. Dennoch ist insbesondere für die Neukundengewinnung der Rechnungskauf ein wesentlicher und wichtiger Hebel. Nicht zuletzt bei den frequenzstarken Kategorien Bekleidung, Schuhe und Textilien liegt der Nutzungsanteil bei jeweils mehr als 40 Prozent und ist damit kaufmännisch zwingend geboten.

Ist es denn nicht fahrlässig, ausgerechnet bei Neukunden den Rechnungskauf anzubieten?

Nein. Schon deshalb nicht, weil die großen deutschen Versandhäuser gemeinsam mit Dienstleistungsunternehmen sehr gut funktionierende Systeme der Bonitätsprüfung aufgebaut haben. Auch die Schufa dient dem Schutz der Unternehmen vor Betrug – und kann heute dank einer großen Zahl von Datenpunkten eine hohe Trennschärfe erzielen und somit mehr Kunden den Kauf auf Rechnung ermöglichen. Unter Maßgabe der Datensparsamkeit liegt die Kunst darin, aus begrenzten Informationen einen vergleichbar hohen „Gini-Koeffizienten“ zu erreichen.

Anders als der Augenschein und die Überwachung im Laden, setzt der E-Commerce also auf Systeme und Wahrscheinlichkeitsberechnung, um möglichst vielen Interessenten den Kauf auf Rechnung zu ermöglichen.



Auch für Neueinsteiger ist das Risiko darstellbar – als kaufmännische Entscheidung, durch die Einbindung von externen Partnern für den Rechnungskauf.

Kann man damit Betrug verhindern?

Nicht in jedem Fall. Aber Zahlungsausfälle nach Rechnungskauf sind auch in den Fällen, die zur Anzeige kommen, nicht immer vorsätzlicher Betrug. Zuweilen verändert sich die persönliche Zahlungsfähigkeit, nicht aber das seit Jahren genutzte Zahlverfahren. Auch verweigern Kunden manchmal die Zahlung, weil sie von einer Schlechtleistung ausgehen, die aber vom Händler nicht anerkannt wird. Und nicht zuletzt gibt es prozessuale Störungen, die zu Zahlungsausfällen führen.

Anders ist es mit den prominent publizierten, aber letztlich nur in sehr geringem Maß tatsächlich auftretenden kriminellen Betrugsfällen. Sie reichen von Bestellungen an alternative Adressen oder mit leicht abweichenden Namen bis zur Ausnutzung der Abholinfrastruktur. In schweren Fällen kommt es zu echtem Identitätsdiebstahl – etwa, wenn Kundennummern in Kombination mit Namen und Adressen bekannt werden, oder eben durch gezieltes manipulieren der Mechanik von Maßnahmen der Betrugsprävention. Letztere beispielsweise auch durch korrekten Ausgleich von Kleinbestellungen und später dann von einer betrügerischen Großbestellung. Nicht jedes Muster ist eindeutig.

Was also ist das Fazit?

Wie ich einleitete: Gelegenheit macht Diebe. Steigt die Zahl der Bestellungen und nehmen viele neue, zum Teil noch unerfahrene Händler kurzfristig den E-Commerce auf, dann verbreitert sich auch die Angriffsfläche für kriminellen Betrug. Als erstes ist der Händler der Geschädigte, und ggf. der Kunde, dessen Identität missbraucht wurde. Der Staat kommt seiner Schutzpflicht nach, wenn er den Betrug verfolgt. Hier den Onlinehandel als „Verursacher“ moralisch mit in die Pflicht nehmen zu wollen, unterstellt ihm, das Verbrechen herausgefordert zu haben.

Wenn – wie in den baltischen Staaten – eine öffentliche digitale Infrastruktur bereitstünde, die eindeutige Identifikation möglich macht, könnte viel Betrug vermieden werden. In Estland kann man mit dem Personalausweis auch online einkaufen. Der Staat schützt die digitale Identität, weil sie dem Bürger, der Wirtschaft und der Gesellschaft wirklich nützt. Nur wenn der digitale Personalausweis für eine Vielzahl von Einsatzzwecken nutzbar wird – für Behördengänge, für die Steuererklärung, aber auch für die Hinterlegung von Verträgen im ÖPNV etc. – wird der Einsatz im E-Commerce samt der möglichen „starken“ Authentifizierung möglich. Dies wäre ein wichtiger Investitionsschwerpunkt für die staatlichen Digitalisierungs-Milliarden. Mit einem direkten Benefit für Händler und ihre treuen Kunden.