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Gaia-X: Wie ernst meint es die Bundesregierung?

Gestern hat Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier gemeinsam mit dem französischen Minister für Wirtschaft und Finanzen, Bruno Le Maire, die zweite Phase der Initiative „Gaia-X“ gestartet. Im Schatten des Konjunkturpakets hat dieser Termin weniger Beachtung gefunden. Zu Unrecht, denn das Projekt zeigt sowohl das Potential als auch die Nöte, die Europas Digitalisierung kennzeichnen.

Was genau Gaia-X werden soll, war aus den ersten Hinweisen und Präsentationen, zum Beispiel auf dem Digitalgipfel 2019, noch nicht klar erkennbar. Gaia-X war geplant als virtueller Hyperscaler: Einerseits also ein Pendant zu den Lösungen von Amazon, Google und Microsoft, mit denen Unternehmen Daten und Rechenprozesse aus der eigenen kontrollierten Server-Umgebung auf viel leistungsfähigere, skalierbare und verteilte Instanzen „in der Cloud“ überführen. Anderseits sollte das Konkurrenz-Angebot deshalb "virtuell" sein, weil keine eigenen Server oder Software entwickelt, sondern bestehende Produkte oder Plattformen in einem Netzwerk verknüpft werden sollten. Dieses Netzwerk gibt die Standards, die Datenformate, die Architektur und die Rahmenbedingungen vor, nach denen Partner ihre Lösungen verbinden sollen.

Auch wenn Peter Altmaier gestern mit sichtlicher Begeisterung das bisher verwendete Bild vom „Daten-Airbus“ zur europäischen „Mondmission“ übersteigerte, ist Gaia-X alles andere als Raketenphysik. Die Prinzipien sind längst bekannt, und alle realen Hyperscaler bieten inzwischen Hybrid- oder Multi-Cloud-Anwendungen, die ähnlich funktionieren und den Nutzern erlauben, die für die Anwendung jeweils beste Cloud-Plattform zu nutzen bzw. sensible Daten "on-premise" zu halten. (Bezeichnenderweise geht es den meisten Nutzern darum, zwischen den globalen Hyperscalern zu switchen, da jeder von diesen eine ehrgeizige Strategie verfolgt, die bestmögliche Plattform für möglichst viele Anforderungen zu bleiben.) Eine technische Innovation ist in Gaia-X schwer zu erkennen.

Framework, nicht Plattform

Um so wichtiger ist der Impuls, der im „Framework“ selbst liegt. Er besteht nicht so sehr in den geplanten „as a Service“-Modellen, die längst Usus sind, sondern in der Governance: Darin, dass Datensilos aufgebrochen, eine gemeinsame Sprache und Logik über Sektoren und Länder hinweg etabliert und klare Vorgaben zur Datensicherheit und dem Schutz von Dateneigentum gemacht werden. Im folgenden Bild stellen die grünen „Federation-Services“ das Proprietäre im Gaia-X-Modell dar:



Dieser Ansatz ist uneingeschränkt zu begrüßen, und doch wirft er ein politisches Problem auf. Erklärtermaßen soll Gaia-X nun auch den „realen“ Hyperscalern als Partner offen stehen, sofern sie sich den institutionellen Prinzipien unterwerfen. Alles andere hätte das Projekt sofort obsolet gemacht. Bei der Demonstration durch die Partner der Gaia-X-Initiative kam es gestern zur fast skurrilen Situation, dass bei der Auswahl des idealen Cloudpartners aufgrund verschiedener Parameter am Ende einzig Amazons S3 („Simple Storage Service“) als Lösung übrig blieb. Auch Microsoft und IBM arbeiten an Gaia-X inzwischen mit.

Damit steht und fällt die beabsichtigte - und am ehesten als "unique selling proposition" zählende - Datensouveränität und Compliance mit den übergeordneten politischen Vereinbarungen zwischen der EU oder, schlimmer noch, den einzelnen Mitgliedsstaaten und den Heimatländern der Hyperscaler. Wenn Deutschland und die USA sich darauf verständigen, dass amerikanische Behörden tatsächlich gemäß CLOUD-Act auf Daten in Europa zugreifen können, dann sind zumindest Datenschutz und -sicherheit potentiell kompromittiert.

Was bleibt, ist die wichtige Datenportabilität. Sie besagt nichts anderes, als dass kein Lock-in-Effekt entstehen darf: Wenn ich mit einem Anbieter von Cloudspeicher oder -Anwendungen nicht mehr weiterarbeiten möchte, soll es mir uneingeschränkt möglich sein, meine Daten wieder von diesen Anbietern zu lösen und an andere weiterzugeben. Das Dateneigentum verbleibt beim Besitzer der Daten, der Verarbeiter kann nur so lange und in dem Umfang damit agieren, wie es der Besitzer der Daten ihm gewährt.

Womit sich ein weiteres Problem verbindet: Gaia-X möchte erreichen, dass Daten frei fließen können. Denn gerade im industriellen Sektor entstehen jeden Tag Terabyte an Daten, die jeweils doch nur einen winzigen Tropfen darstellen. Gaia-X und die augenfällig identische EU-Datenstrategie hoffen auf Wertschöpfung von etlichen Billionen Euro aus dem Poolen und gemeinsamen Bearbeiten von Daten. Wenn die Daten aus dem Pool abgezogen werden, was passiert mit den gemeinsam erzielten Erkenntnissen? Dürfen diese an externe Partner weitergegeben werden?

Zweifellos können diese Fragen der Governance geklärt werden. Darum, noch einmal, ist Gaia-X ein enorm wichtiges, aber eben auch sehr komplexes Projekt.

Mondrakete mit Zweitakter

Um so ernüchternder ist der Etat, mit dem Gaia-X von der Regierung ausgestattet wird. Zur Erinnerung: Das Konjunkturprogramm der Bundesregierung umfasst „brutto“ Digitalisierungsinvestitionen von ca. 50 Milliarden Euro. Dorothee Bär, Staatsministerin für Digitalisierung, räumte gestern im F.A.Z.-Podcast ein, dass spitz gerechnet am Ende 20-30 Milliarden Euro echter Investitionen in Digitalisierung erfolgen könnten.

Und was fällt für das Billionen-Euro-Projekt Gaia-X ab? Der in Belgien angesiedelten Betreibergesellschaft von Gaia-X steht für die Entwicklung und „Vermarktung“ der oben genannten Standards, Architektur etc. jedes Jahr ein Budget von lediglich 1,5 Millionen Euro aus Bundesmitteln zur Verfügung. Der französische Staat beteiligt sich offenbar gar nicht mit Geldmitteln an der Finanzierung.

Nicht einmal diese denkbar geringe finanzielle Ausstattung der „Mondmission“ ist zwingend ein Problem, da ja zahlreiche industrielle Partner hier unterstützen – wenn nicht durch direkte Einlagen oder Budgets, so doch durch Personal und Investitionen in die Anpassung der eigenen Software und Services.

Allerdings muss man dabei berücksichtigen, dass keiner der im Gaia-X-Konsortium versammelten maßgeblichen Partner sein Geld und seine Energie ausschließlich auf diese Euro-Cloud und ihre Prinzipien setzt. Und das ist folgerichtig, denn das von Peter Altmaier als „Goldstandard“ bezeichnete Framework veredelt die Leistung der Cloudangebote mit DSGVO und anderen „Werten“, die im Wettbewerb mit den vergleichbaren Plattformen in anderen Teilen der Welt auch Beschränkungen mit sich bringen. Für keines der an Gaia-X beteiligten Unternehmen ist es überhaupt möglich, ausschließlich auf die Euro-Cloud zu setzen. 

China als Konkurrenz

Um die Implikationen für Gaia-X zu verstehen, muss man die am Mittwoch vom Mercator Institute for China Studies (MERICS) veröffentlichte, im Auftrag des Bundeswirtschaftministeriums erstellte Studie zur Entwicklung der chinesischen digitalen Plattform-Ökonomie und ihrer Bestrebungen im Hinblick auf Industrie 4.0 heranziehen.

Ganz pragmatisch sieht man die Konkurrenz zwischen Gaia-X und den bestehenden Hyperscalern an den Investitionen, die sich Konsortial-Firmen wie SAP oder Siemens oder auch deutsche Automobilkonzerne für die Teilnahme an der chinesischen Plattform-Ökonomie leisten. Von der selbstverständlichen, längst bestehenden Integration in Plattformen wie AWS oder Azure ganz zu schweigen. Siemens stellt sein IoT-Angebot Mindsphere beispielsweise in der Alibaba-Cloud zur Verfügung. SAP arbeitet mit der Plattform XCMG des chinesischen Staatskonzerns XREA zusammen. Sogar an der CASICloud und INDICS-Plattform des chinesischen Luft- und Raumfahrt- und Verteidigungskonzerns CASIC arbeiten SAP, Bosch, die TU Darmstadt und die RWTH Aachen – der Goldstandard der deutschen Hochschullandschaft – seit Jahren mit.

Und das aus gutem Grund: Schon seit 2018 drängt die chinesische Regierung ihre im Vergleich mit Deutschland deutlich rückständigere Maschinenbau- und Schwerindustrie dazu, „to go Cloud“. Die ersten Projekte hat China damals mit insgesamt fast 680 Millionen Euro gefördert. (Noch einmal zur Erinnerung: Gaia-X ist der Bundesregierung gerade einmal 1,5 Millionen Euro pro Jahr wert!) Für die SAP, Siemens, Bosch, VW ist die aktive Teilnahme am digitalen Modernisierungsprogramm der Volksrepublik allein aus wirtschaftlichen Gründen zwingend geboten. Nicht teilzunehmen, würde den Zugang zum riesigen chinesischen Markt verengen.

Die oben genannte MERICS Studie spricht von mehr als 200 seit 2018 entstandenen digitalen Industrie-Plattformen. Weltweit relevant sind neben Alibaba – der Konzern expandiert aus dem B2C-Markt ähnlich wie Amazon inzwischen stark in den B2B- und Industrie-Sektor – nur wenige davon, etwa die Mass-Customization-Plattform COSMOplat des Haier-Konzerns. Allerdings sollte man sich nicht täuschen lassen: Auch kleinere Plattformen haben allein in China Dimensionen, für die man in der alten Welt europaweit Nutzer gewinnen müsste.

Derzeit schaut China seinerseits mit besonderer Aufmerksamkeit auf den weltweit führenden deutschen Maschinenbau, vor allem aufgrund seiner Kompetenz bei Sensorik und Steuerungssoftware. Der Rückstand der anderen Länder und insbesondere Chinas ist hier enorm, die Bereitschaft, von den europäischen Partnern zu lernen, um so größer. SAP, Siemens & Co. unterstützen auch in China den Aufbau genau solcher Standards, die in Europa der Fokus von Gaia-X sind. Und sie können von den geringeren regulatorischen Hürden berichten, die chinesische Firmen bei der Nutzung von Daten haben. Firmen, die auf dem Weltmarkt mit europäischen Anbietern konkurrieren sollen.

Speed, Reach, Data

Angesichts dieses globalen Wettbewerbs ist die Ausrichtung von Gaia-X auf Industrie 4.0 richtig: Man soll, man muss die eigenen Stärken stärken – und absichern. Das Rennen um den Führungsplatz bei Industrie 4.0 hat gerade erst begonnen.

Zwar hat China längst Deutschland und den USA den Rang bei den neuen Patenten im IoT-Sektor abgelaufen, aber hier ist nicht jedes Patent gleich wertvoll. Die hohe Zahl an Patenten unterstreicht vor allem die Entschlossenheit Chinas, bis zum 100. Geburtstag der Volksrepublik im Jahr 2049 zur weltweit führenden Wirtschaftsmacht aufzusteigen. Digitalisierung in Verbindung mit Infrastrukturpolitik entlang der Neuen Seidenstraße ist der Weg dazu.

Der Erfolg von Gaia-X als Konkurrenz zu chinesischen oder amerikanischen Plattformen hängt also davon ab, ob man mit hoher Geschwindigkeit eine hohe Reichweite im Markt und eine hohe Zahl von „produktiven Daten“ erreicht, mit denen noch bessere Produkte und Services entstehen. Produktive Daten deshalb, weil zwar viele Unternehmen in Deutschland sagen, dass sie die Cloud nutzen. Aber dies vor allem für e-Mail und Dokumente sowie als Speicherplatz. Sie „prozessieren“ keine Daten in der Cloud. In dieser Hinsicht muss die europäische Industrie in der Breite nicht anders als die chinesische ebenfalls noch motiviert werden, „to go Cloud“. Was übrigens bisher als Motivation für die Schaffung von Gaia-X genannt wurde: Erst eine „sichere“ Cloud würde zur breiten Akzeptanz in der Industrie führen.

In der Vergangenheit allerdings sind Ansätze einer „sicheren“ Cloud-Umgebung auf Basis von Microsoft Azure krachend gescheitert – mangels Nachfrage. Der Betreiber von Gaia-X muss also auch und zuallererst Treiber sein. Die Konstruktion als Non-Profit-Koordinierungsstelle für Peanuts reicht nicht: Gaia-X muss wie ein privatwirtschaftliches Unternehmen geführt werden. Der vorgesehende Finanzrahmen ist dafür schlicht zu gering.

E-Commerce? Fehlanzeige

Was bedeutet dieser globale Wettlauf um die führenden digitalen Plattformen im industriellen Sektor für den E-Commerce? Mit Blick auf die Visionen von Alibaba oder COSMOPlat möchte man sagen: viel, wenn nicht alles. Es geht um die Wertschöpfungsketten „End-to-End“.

Für Gaia-X allerdings lautet die Antwort: Offenbar gar nichts. Erklärtermaßen spielt in den Überlegungen des Konsortiums das Thema des digitalen Handels, der Transaktionen, des E-Commerce keine Rolle. Der folgende Screenshot aus der Präsentation zeigt, welche Aspekte Gaia-X adressieren soll – oder eben nicht:



Da zu einem Ökosystem auch die Transaktionsbeziehungen dazugehören - selbst wenn die Zahlung zwischen Unternehmen und insbesondere bei investiven Gütern in anderer Form erfolgt als bei "consumer packaged goods" - , scheint Gaia-X in diesen Bereichen geradezu zwingend auf die Integration bestehender dominierender Anbieter zu setzen. Damit fehlt Gaia-X die ganzheitliche Vision. Zum Vergleich hier das "wheel of growth" des „Alibaba Operating Systems“, das den vollständigen Wertschöpfungszyklus erfasst:



COSMOplat wiederum spricht von einem „neuen industriellen Ökosystem“ und bindet den Kunden zentral ein: 

„Through community interaction, Haier COSMOPlat enables the user to participate in the whole process of design, production and sales, so the relevant parties know the identity of their users even before the production. To this end, Haier has developed a very important standard of ‘Non-stocking Rate’, that is, after the product goes offline, it can be sent directly to the user without entering the warehouse. Now Haier can achieve a product non-stocking rate of 69%. User customization accounts for more than 16% and customer customization accounts for 52%.” 



Im Feld der Mass-Customization – wo sich E-Commerce und industrielle Fertigung begegnen – ist Haier inzwischen einer der maßgeblichen Anbieter, nicht zuletzt durch die führende Rolle bei der Standardisierung der zugehörigen Prozesse und Daten unter dem Dach des Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE) und der International Organization for Standardization (ISO). Der weiterführende Anspruch ist klar:

„This is also the first international standard regarding manufacturing model led by Chinese enterprises, which indicates that the Chinese program has shifted from following to leading and taken the lead in the world.”

Mondmission, aber richtig!

Gaia-X reiht sich in eine lange Tradition ein: Deutschlands Wirtschaftspolitik ist Industriepolitik, keine Handelspolitik. Allem Reden vom Aufbrechen der Silos zum Trotz, wird die Wertschöpfungskette nicht neu und radikal vom Nutzer her gedacht. Ob mit dieser Hypothek ein konkurrenzfähiges Modell für einen „dritten Weg“ in der Plattformökonomie entsteht, ist mehr als offen.

Wenn die deutsche Politik es mit der Digitalisierung ernst meint, dann sollte sie Gaia-X so ausstatten, dass die Plattform zur Drehscheibe für alle die Bereiche werden kann - auch für alle die, die angesichts der Corona-Pandemie ihre Rückständigkeit zu spüren bekommen haben: Schulen, Behörden, Kommunen, und eben auch Handelsstrukturen.

Mehr noch: Gaia-X muss mit einer Vision für nachhaltige Wertschöpfungsketten unterlegt werden, die sich mit dem Anspruch der asiatischen und amerikanischen Hyperscaler messen kann. Wer niedriger zielt, verfehlt das hochgesteckte Ziel.