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Gaia wer?

Gaia-X

Das um digitale Bemühungen nicht arme deutsche Staatswesen wirft sich ein weiteres Mal in die Zukunft und möchte nichts weniger als eine „General Artificial Intelligence Application“ entwickeln. Die – mit Großunternehmen und dem wichtigsten europäischen Partner Frankreich abgestimmten - Pläne hat Bundeswirtschaftsminister Eduard Altmeier heute im Rahmen des Digitalgipfels in Dortmund vorgestellt.

Am Handel scheint das Projekt unbemerkt vorbeizuziehen. Das mag daran liegen, dass die Konzeption Industrie-nah entwickelt wurde und vor allem auf den deutschen herstellenden Mittelstand ausgerichtet ist. Der soll in die Lage versetzt werden, statt auf bilaterale, teure Schnittstellen- und Datenintegrationen quasi auf einen universellen Adapter zurückzugreifen, über den er die verschiedensten IT-Leistungen einer fast beliebig großer Zahl Diensteanbieter in einem hochsicheren Ökosystem nutzen kann.

Die Anwendungsszenarien betreffen Fabriken und Krankenhäuser, Universitäten und Stadtverwaltungen. An den Handel hat niemand dabei gedacht – mit Ausnahme an B2B-Transaktionen im Produktionsverbindungshandel: Supply Chain Management im Hinblick auf A- und B-Teile, Just-in-time-Lieferung von Verschleißteilen, damit die Maschine nicht stehen bleibt.

Das muss im ersten Schritt kein Schaden sein. Das Ziel von Gaia-X kann für den Handel durchaus attraktiv sein und potentiell einen „Safe Haven“ für alle die bieten, die nicht auf amerikanische und asiatische digitale Ökosysteme zurückgreifen wollen. Gaia-X setzt hier auf Open Source und öffentliche, distributierte „Hoheit“. Gemeinsame Syntax, gemeinsames Vokabular, und keine Sorge, dass irgendwann jemand das Tor versperren könnte oder einen Dienst abschaltet: Die Migration von Daten und Vermeidung von Lock-in-Effekten könnte tatsächlich eine besonderes Kennzeichen der „Euro-Cloud“ werden.

Darüber hinaus will Gaia-X nichts neu erfinden, was schon gelöst ist. Die zentrale, wichtige Entwicklung einer Referenzarchitektur und von Standards ist längst an anderer Stelle, namentlich von der ursprünglich Industrie-orientierten „International Data Spaces Association“ vorgelegt worden. Die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Plattform Industrie 4.0 entwickelte und maßgeblich vom Fraunhofer-Institut umgesetzte Initiative könnte dank Gaia-X Schwung bekommen.

Ist Gaia-X das Schweizer Messer, der „Jack of all trades“ der Datenwirtschaft?

Man möchte es sich wünschen. Auf Wirtschafts-Seite stehen die Akteure für deutsche Ingenieurskunst. Das ist die größte Chance, aber auch die größte Hypothek. Nicht nur im Hinblick auf die beschworene, aber schwer zu realisierende Agilität. Denn noch besteht Gaia-X aus nicht mehr als einer von vielen Stakeholdern getragenen Public-Private-Partnership, die – und das ist der Haken – global schlagkräftigen, fokussierten Unternehmen gegenübersteht. Diese erbringen heute schon jeden Tag genau die Leistungen für Wirtschaft und Handel (!), die Gaia-X erst noch entwickeln möchte. Und keines der Unternehmen klagt bisher über Daten-Unsicherheit und mangelnde Integrationsfähigkeit der Prozesse. Im Gegenteil: Die Systeme sind aus einem Datenmodell entwickelt, nutzen dabei IT-übliche Sprachen.

Das wird beim Blick auf die „Praxisbeispiele“ dramatisch deutlich. Wo Gaia-X von zukünftigen Möglichkeiten in der Krebsforschung spricht, laufen genau solche Anwendungen heute schon produktiv in der AWS-Cloud. Die Szenarien für die Stadt, die Ökologie oder die Industrie wurden als „Verticals“ im „ET Brain“ von Alibaba längst gezeichnet, entwickelt, und entlang der neuen Seidenstraße implementiert – und darüber hinaus. Vor nicht einmal drei Wochen hat Alibabas Tochter „Cainiao“ in Lüttich einen Logistik-Hub in Betrieb genommen. Cainiao baut die digitale, KI-gestützte IT für globale Logistikprozesse des asiatischen Handelsprimus.

Das alles spricht nicht gegen Gaia-X, eher dafür. Aber bis jetzt übernimmt das Modell die Schwäche der bisherigen Modelle: eine Supply-Chain-orientierte Denke, in der die herstellende Industrie am Beginn steht, nicht am Ende eines „Demand-Chain-Prozesses“. Also genau das, was durch Digitalisierung im Handel so dramatisch revolutioniert wurde.

Ein Blick nach Asien zeigt auch hier den mächtigen Gegenentwurf, den das „Alibaba Operating System“ über seine zahlreichen Unternehmen ermöglicht: Consumer-Insights werden über kundenbezogenes Design in eine smarte Produktion überführt, die „atmend“ auf Veränderungen in der Nachfrage reagieren kann. ECR auf Steroiden, sozusagen.

Was Gaia-X fehlt, ist genau diese kopernikanische Wende. Dem Handel wurde Customer Centricity durch E-Commerce aufgezwungen und bricht sich bislang an einer Art digitaler Berliner Mauer: Den weithin inkompatiblen und nicht direkt adressierbaren Datensystemen und Produktionsprozessen bei den Herstellern.

Diese Not der deutschen Wirtschaft wird durch Gaia-X nicht adressiert.