verfasst von Sebastian Schulz
Wer sich vornimmt, (so wie ich) das Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen einmal von vorn bis hinten durchzulesen, braucht vor allem eines: viel Zeit. Die Vision der Grünen für eine bessere Zukunft ist mit 247 (in Worten: zweihundertsiebenundvierzig) Seiten so umfangreich, dass es sogar eines Stichwortregisters bedarf. Nimmt man sich die Zeit, wird man mit einer unglaublichen Fleißarbeit im Prosa eines Utta Danella-Romans belohnt. Hinsichtlich der politischen Positionen präsentiert sich das Wahlprogramm der Grünen, abseits der Debatten um Braunkohleausstieg und TTIP, in weiten Teilen als zweieiiger Zwilling des SPD-Wahlprogramms, wobei hier freilich weiterhin der Umweltschutz im Zentrum steht. Ich als Vater eine kleinen Jungen finde letzteres ja grundsätzlich gut. Allein das Wie der fraglos erforderlichen Grünen Transformation will sich mir auch nach Lektüre des dickleibigen Wahlprogramms weiterhin nicht erschließen. Die Kosten des Ausstiegs aus allem was raucht und stinkt werden mit einer Vermögenssteuer (S. 194) allein jedenfalls nicht aufzufangen sein. Das an zahlreichen Stellen beschworene Entstehen neuer Arbeitsplätze (S. 8, 36, 40f., S. 49, ...) bleibt – Stand heute – weiterhin zum Großteil eine Wette auf die Zukunft.
Das Ansinnen der Bündnisgrünen, Deutschland zum ökologischen Spitzenreiter machen zu wollen (S. 9, 41), hat zahlreiche direkte oder zumindest mittelbare Auswirkungen auf die Wirtschaft im Allgemeinen und den Handel im Besonderen. Erste Beispiele: Plastik wir der Kampf angesagt. Abfallvermeidung und Recycling sollen „gestärkt“, neue Mehrwegsysteme sollen eingeführt, abbaubare Kunststoffe sollen entwickelt werden (S. 18, 19). Das Kreislaufwirtschaftsrecht soll durch ein Wertstoffgesetz mit „anspruchsvollen Verwertungsquoten“ bereichert werden. Eine längere Lebensdauer von Produkten soll „gefördert“ werden (S. 22).
Nachhaltiger Konsum ist für die Grünen dabei keine Einbahnstraße. Zum einen wird die Gesellschaft aufgefordert, „ihre Lebensstile und Konsumgewohnheiten“ zu „überdenken und nachhaltiger zu gestalten“ (S. 36). Zum anderen setzt man sich für transparente Lieferketten „mit sozialen und ökologischen Mindeststandards durch entsprechende Offenlegungs- und Sorgfaltspflichten“ ein (S. 95, 157). Hiermit verwoben sind die Pläne der Grünen für den Logistiksektor, u.a.: Kommunen, die ihren innerstädtischen Logistikverkehr auf E-Fahrzeuge und Lastenräder umstellen, sollen gezielt gefördert werden (S. 61). Die LKW-Maut soll auf LKW ab 3,5 Tonnen und schrittweise auf das gesamte Straßennetz der Bundes- und Landesstraßen ausgeweitet werden (S. 58). Gigaliner werden abgelehnt.
Die eben angeschnittenen Nudging-Tendenzen werden durch umfangreiche Ausführungen zu Vorhaben im Bereich des Verbraucher- und Datenschutzes ergänzt. Unterhalb „höchster Datensicherheits- und Verbraucherschutzstandards“ (S. 46) in allen Lebenslagen machen’s die Grünen nicht. Bestehende Gewährleistungsfristen sollen verlängert werden. Die Beweislastumkehr im Falle eines Sachmangels soll sich zu Lasten des Händlers von aktuell sechs Monaten auf zwei Jahre ausdehnen (S. 159).
Stolz sind die Grünen auf die von ihnen in Brüssel federführend verhandelte EU-Datenschutzgrundverordnung (S. 227). Anerkannte Wissenschaftler sind da weniger euphorisch. Ähnlich wie die FDP stehen auch die Grünen im Bereich des Datenschutzes für ein überaus eindimensionales Rechtsverständnis. Der Datenverarbeiter als Grundrechtsträger kommt im Programm der Grünen nicht vor. Und wenn dann noch personenbezogene Informationen ganz allgemein und ohne Einschränkung als „hochsensibel“ bezeichnet werden, fragt man sich, wie die zugleich befürworteten „innovativen Angebote“ (S. 160) am Ende des Tages noch aussehen sollen. Persönlich richtig finde ich das grüne Nein zum Irrweg des Dateneigentums (S. 160).
In anderen Fragen der Digitalisierung sind die Grünen deutlich progressiver. Die Digitalisierung eröffne Chancen und Möglichkeiten, die ergriffen werden wollen (S. 222). Echte Netzneutralität ist für Grüne eine Selbstverständlichkeit (S. 225). Datenmonopole sollen, auch über eine Neustrukturierung der behördlichen Aufsicht, stärker reglementiert werden (S. 226). Gebündelt werden sollen Fragen der Digitalisierung in einem eigenen Digitalministerium (S. 226).
Beim Thema Arbeit wird die geistige Verwandtschaft von rot und grün überdeutlich. Details:
Leiharbeit soll nicht nur vom ersten Tag an mindestens in gleicher Höhe entlohnt werden wie Arbeit der Festangestellten. Die Bündnisgrünen fordern zudem eine Flexiprämie (S. 217). Flexi-Vollzeit einschließlich eines gesetzlichen Rückkehrrechts in Vollzeit sollen gesetzlich verankert werden (S. 131). Sachgrundlose Befristung wird abgelehnt (S. 193). Tarifverträge sollen einfacher für allgemeinverbindlich erklärt werden können (S. 192). Aber: Arbeiten auch an Sonn- und Feiertagen wird grundsätzlich anerkannt (S. 217).
Last not least; die Bündnisgrünen widmen sich in ihrem Programm auch den Themen Steuern und Steuervermeidung („wollen wir angehen“, S. 194). Alle international tätigen Unternehmen sollen ab einer gewissen Größe ihre Gewinne und Steuerzahlungen nach Staaten offenlegen. Tricksereien mit Lizenzgebühren und Zinsen sollen unterbunden (S. 194), Abschreibungsgrenzen für geringwertige Wirtschaftsgüter erhöht werden (S. 195). Und – zum Abschluss wird’s versöhnlich – sollten die Grünen an die Macht kommen, werden sie sich wohl für eine Vereinfachung bei der Umsatzsteuer „mit Blick auf die aufwendigen Verfahren beim Handel innerhalb der EU“ einsetzen (S. 195). Sehr gut. Fordern wir seit Jahren.
So viel zu den Plänen der Bündnisgrünen. Das nächste Mal schauen wir uns die wirtschaftspolitische Agenda der Linkspartei an. Seid bereit!