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„Der E-Commerce in Europa und den USA muss sich warm anziehen“

Einkaufen in Zukunft. Ein Gespräch mit Dr. Dirk Seifert, geführt von Jürgen Hamerski

Der E-Commerce steht regelmäßig im Zentrum gesellschaftlicher Debatten. Das ist ein gutes Zeichen, denn es zeigt: Die Branche bewegt. Deshalb hat der bevh Wissenschaftler, Politiker und Verbände gefragt, wie sie den E-Commerce sehen. Dabei lassen wir selbstverständlich auch diejenigen zu Wort kommen, die nicht unserer Meinung sind und laden alle Leser dazu ein, die Beiträge kritisch zu kommentieren. Der bevh wird zudem auf Grundlage der Beiträge ein Thesenpapier erarbeiten, das nach Abschluss der Reihe die Beiträge aufnimmt. Bis dahin können Sie im September und Oktober jede Woche Dienstag im Rahmen unserer Beitragsreihe „Einkaufen in Zukunft“ lesen, was andere über den E-Commerce denken.

Heute mit Dr. Dirk Seifert, Research Group Mobile Innovation Shanghai FUDAN University/ETH Zürich - School of Management, Technology Zürich, Schweiz 

Alibaba ist aller Skepsis zum Trotz erfolgreich an der Wallstreet gestartet und hat sich mit einem Emissionsvolumen von 25 Milliarden Dollar zum größten Börsengang aller Zeiten entwickelt. Dagegen sehen die Pläne von Zalando und Rocket Internet fast moderat aus. Hat der europäische Onlinehandel überhaupt eine Chance gegen die E-Commerce-Giganten aus China und den USA? Was unterscheidet den chinesischen E-Commerce vom deutschen und wo liegt die Zukunft des E-Commerce?

Gefragt haben wir dazu Dr. Dirk Seifert. Er ist Handels- und Fast-Moving-Consumer-Goods-Experte im Bereich Retail und E-Commerce in Asien. Nach verschiedenen Management-Stationen bei Metro Cash&Carry Deutschland, Frankreich und Asien sowie bei Procter&Gamble, pendelt er heute als Leiter einer internationalen Forschungsgruppe von drei Hochschulen zwischen Shanghai, Zürich und Boston. Zentrum seiner wissenschaftlichen Arbeit ist Shanghai. Dort arbeitet er an der FUDAN University mit namhaften chinesischen Handels- und FMCG-Unternehmen zusammen. Zudem ist er Eigentümer einer Investmentgesellschaft und Berater von verschiedenen E- und M-Commerce-Unternehmen in Asien.
 

76 Prozent der chinesischen Verbraucher kaufen laut einer PWC-Studie zufolge mindestens einmal in der Woche im Internet ein. Wie bemerken Sie das vor Ort? Sieht der chinesische Einkaufsalltag anders aus als der deutsche?

Ja, ganz klar. China ist ein riesiges Land und außerhalb der großen Städte gibt es kaum eine internationale Filialstruktur. Weltweit bekannte Konsummarken wecken Begehrlichkeiten in ganz China. Das Geld ist dazu nicht nur in Beijing oder Shanghai vorhanden, sondern auch in den anderen Millionenstädten. Da wird ordentlich gekauft und da keine Shops vorhanden sind, wird sehr stark über das  Internet bestellt. Auch ist "the last mile" zum Konsumenten extrem günstig. In China gibt es ganze Armadas von Rollerfahrern, die für E-Commerce Unternehmen die Produkte an die Haustüre fahren.

Unternehmen wie das E-Commerce Unternehmen Yihaodian haben zudem das System des "same day delivery" perfektioniert. Wenn eine Mutter morgens um 7.45 Uhr merkt ich habe keine Pampers mehr, dann kann um 10.30 Uhr geliefert werden und das zu akzeptablen Kosten. Davon träumen Mütter in Deutschland leider noch.

Ist der chinesische Onlinehandel dem europäischen voraus oder einfach  anders? Was kann man vom chinesischen E-Commerce lernen, um in Deutschland besser zu werden oder gar disruptiv zu handeln?

Der chinesische Online-Handel ist einfach anders. M-Commerce spielt eine enorm wichtige Rolle. Warum: weil viele Chinesen keinen Internet-Anschluss über Desktop haben, sondern über Smartphones ihre Shopping erledigen.

Man wirft den Chinesen häufig vor, sie kopieren einfach nur. Das mag in einigen Bereichen stimmen, aber im Bereich M-Commerce setzten chinesische Unternehmen Standards. Sie sind schnell, pragmatisch und absolut auf die Kundenbedürfnisse fokussiert.

M-Commerce wird aus meiner Sicht in Europa noch massiv vernachlässigt. Alle Söhne und Töchter der Handels-Manager, die derzeit in Deutschland das sagen haben, machen bereits alles mit dem Smartphone. In einigen Jahren ist diese Generation im vollen Peak der Konsumausgaben und es gibt kaum schlüssige M-Commerce Konzepte.

Im Gegenteil: ein Top-Handelsplayer wie die METRO-Gruppe bekommt seit Jahren nicht ihre E-Commerce Aktivitäten auf die Reihe. Der Niedergang des Unternehmens ist extrem traurig mit anzusehen, da dort zum Teil exzellente Leute arbeiten. Dabei wären alle Möglichkeiten da, wenn man endlich die Zeichen der Zeit erkennt und einsieht das Handel im Jahr 2020 komplett anders aussehen wird.

Der Wandel im Handel ist seit 10 Jahren brutal. Oliver Samwer geht soweit, dass er sagt: Shops bieten keinen wirklichen Mehrwert mehr. Das sehe ich zwar ein wenig anders (Stichwort: gelebtes Shopping-Erlebnis etc.), aber es zeigt die Richtung in die von der strategischen Unternehmensführung von Top-Playern des Handels wie METRO, REWE, EDEKA und selbst Aldi und LIDL endlich gedacht werden muss.

Alibaba ist erfolgreich an der Wallstreet gestartet. Amazon oder Alibaba, wer bestimmt die Zukunft des E-Commerce?

Mittelfristig spielen beide in einer Liga. Langfristig hat klar Alibaba die Nase vorn, wenn es Amazon nicht doch noch gelingt in Asien Akzente zu setzen.

Warum: Erstens beschafft sich Alibaba mit dem Börsengang die adäquaten Finanzmittel um jetzt richtig durchzustarten. Zweitens: holt sich Jack Ma seit zwei Jahren die besten Leute an Bord. 

Alibaba ist seit geraumer Zeit ein Magnet für die chinesischen High Potentials der Studenten und Jung-Manager. Das ganze wird flankiert durch die systematische Nutzung von internationalen Ratgebern. Ich spreche hier nicht unbedingt von McKinsey, BCG und Co, sondern von gestandenen, globalen E-Commerce Unternehmern mit hervorragendem Track-Record, die Jack Ma in die Entwicklung seiner internationalen Strategie mit einbindet. Die Frauen und Männer, die die Strategie mit ihm entwickelt haben, sind dann gleichzeitig die "Führungsreserve" für die Besetzung der Top-Positionen. Die haben von der ersten Sekunde an die Strategie und die Unternehmenskultur von Alibaba verinnerlicht. Ein sehr smarter Ansatz.

Welche Auswirkungen werden wir in Europa spüren?

Enorme Auswirkungen in Hinsicht auf neue Marktteilnehmer und der Dynamik des Marktes. Insbesondere der Metrik des Marktes. Es wird Preiskämpfe geben. Und es wird neben same-day-delivery auch um die besten Köpfe der Branche gehen. Ich erwarte hier einen massiven brain drain. Hinzu kommt die erhöhte Bereitschaft von chinesischen Milliardären das entsprechende Wagniskapital zur Verfügung zu stellen. Dies in Summe führt zu einem enormen Selbstbewusstsein, dass sich in Hinsicht auf Expansion nach Europa und Nord-Amerika Bahn bricht. Also bitte "Warm anziehen" und diese Entwicklung frühzeitig smart antizipieren und entgegenwirken.

Wo liegt angesichts starker internationaler Konkurrenz die Zukunft des E-Commerce? Multichannel oder Spezialisierung?

Beides. Das Netz wird alles bieten und bei jeder Firma kommt es auf den richtigen Mix an. Das Beispiel Wal-Mart zeigt: dort hat das größte Handelsunternehmen der Welt mit dem größten Cash Flow erkannt, dass es Jahre gegen Amazon, Alibaba und Co verschlafen hat und steuert jetzt brutal und zukünftig sehr erfolgreich dagegen.

Der in 2012 neu ernannte CEO Global eCommerce,  Neil Ashe, ist Vollprofi in diesem Bereich und wird das stationäre Geschäft gezielt mit seinen Innovationen in E-Commerce und M-Commerce verzahnen. Das wird exzellentes Multi-Channeling und geht qualitativ darüber hinaus sogar in den Bereich No-line Handel, den mein geschätzter Kollege Prof. Gerrit Heinemann richtigerweise als höchste Evolutionsstufe im Multi-Channel-Management beschreibt. Genauso wird es aber auch Unternehmen geben, die hoch erfolgreich sich spezialisieren und damit auch bewusst beschränken.

Die von großen Beratern gerne propagierten Standard-Lösungen gibt es nicht. Man muss auf jedes Unternehmen einzeln eingehen, die wahren Stärken identifizieren und dann weiter ausbauen, um es im internationalen Wettbewerb zukunftsfähig zu machen. Die ersten Unternehmen erkennen zu Recht, dass der Bereich E-Commerce und M-Commerce als eigenständiger Vorstandsbereich geführt werden muss. Es reicht nicht aus diesen Bereich an den Vertriebs-Vorstand oder noch schlimmer IT-Vorstand anzuhängen. Das ist der Tod. Noch hat der deutsche Handel viele Trümpfe in der Hand, um auch zukünftig innovative Akzente zu setzen, aber die Zeit rennt.