verfasst von Martin Groß-Albenhausen
Betrachten wir die Wertschöpfung des klassischen Handels gemäß des funktionsorientierten Ansatzes:
| Raum | Zeit | Quantität | Qualität |
Realgüterstrom | Warenbewegung von Ort zu Ort | periodische Vorratslagerung | Waren konsolidieren, vereinzeln, versenden, wiedervereinnahmen | Sortimentieren, Bündeln, Ergänzen (Service) |
Auf den ersten Blick ändert die Digitalisierung hier wenig bis nichts. Noch immer muss die produzierte Ware „en gros“ die Fertigungsstätten verlassen und im darauf folgenden Zeitraum vereinzelt und dem Kunden passend zur Verfügung gestellt werden.
Betrachtet man diese Prozesse jedoch unter dem Konstrukt aus Daten, Prozessen und Kontrolle, werden die enormen Effizienzreserven sichtbar, die digitale Modelle zu heben verstehen:
- Digitale Ware steht dem Kunden unabhängig vom Zeitpunkt der Einlagerung oder ggf. sogar der Fertigung zur Auswahl.
- Zu diesem Zeitpunkt ist aufgrund der entfallenen räumlichen und zeitlichen Beschränkung keine Sortimentsbildung mehr notwendig; multidimensionale Daten erlauben die Abbildung „aller“ Waren und zugleich die Vermittlung des am besten passenden Einzelproduktes.
- Indem nicht der Artikelstandort, sondern der Zielort und der Prozess der Warenbereitstellung im Fokus stehen, können einzelne Lagerschritte übersprungen und neue, digital vermittelte Distributionsmodelle erschlossen werden.
- Der Warenumschlag erhöht sich, wenn aufgrund von prognostizierbarer Nachfrage (Big Data) die Ware dem Kunden entgegenreisen kann.
- Idealerweise lassen sich die Fertigungsstätten in den so prognostizierten Nachfragezyklus einbinden und produzierte und benötigte Mengen besser abstimmen.
Das ist längst keine Science Fiction mehr, sondern bei Unternehmen wie Otto, Amazon und Zalando Alltag. Ottos Tochterunternehmen Blue Yonder analysiert und prognostiziert Bestellverhalten. Zalando testet derzeit ein Distributionskonzept, bei dem nicht die eigene Ware, sondern die von lokalen Händlern in der Nähe des Kunden zur Aussendung kommt. Die Kontrolle über den Zustellprozess und die Errechnung des am schnellsten und kostengünstigsten nutzbaren Artikelstandorts führt zu einem überragenden Kundenerlebnis – und hier nicht einmal auf Kosten des stationären Handels.
Auf bestimmte Modelle der „Predictive Logistics“ hält Amazon Patente. In Szenarien eines globalen Fulfillment by Amazon würden die Merchants der Plattform das Recht einräumen, die Warenstandorte zu optimieren. Dadurch enstehen enorme Herausforderungen im Zollrecht, auch in der Produktsicherheit und Haftungsfragen. Im Grunde aber setzt Amazon hier an der richtigen Stelle an. Da die GTIN für eine eindeutige Identitfikation des Produktes sorgt, und diese GTIN über die gesamte Plattform gespielt wird, könnte Amazon in einer weiteren Stufe Preisbildung und Verkauf durch die Merchants von der internen Abwicklung trennen. Der Händler mit Sitz in Deutschland und Ware an Standort X verkauft in einem anderen Land zu den dort geltenden MwSt-Sätzen und mit kalkulierten Transportkosten. Aber weder für den Kunden noch für den Händler noch für Amazon (und schon gar nicht für die Umwelt) liegt eine Wertschöpfung im Transport, wenn die gleiche Ware schon da ist.
Seinen Kulminationspunkt erlebt Digitalisierung im Handel im 3D-Druck, durch den für zahlreiche Produkte ganz unterschiedlicher Werkstoffe und Größenordnungen der Lagerbedarf vollständig entfällt. Die Hoheit über den Datensatz und das Datenformat sind der Wert. Stellen Sie sich vor, die größte Handelsplattform der Welt würde 3D-Drucker mit proprietärem Datenformat bei Firmen- und Endkunden verteilen. Lieferanten lizenzieren das Datenformat und erhalten pro gefertigtem Stück eine Beteiligung. Raubkopien sind durch in der Software nach Blockchain-Prinzip verankerte Limitierungen ausgeschlossen. So entsteht neben dem „Realgüterstrom“ ein „Virtualgüterstrom“.
Ein Beispiel für diese Veränderung ist das Verlagswesen. Das Unternehmen „Books on Demand“ liefert aus digitalen Daten gebundene Bücher ab Losgröße 1. Dadurch ersparen sich Verlage eine physische Backlist und können den Longtail dennoch voll ausschöpfen. Im Resultat können kleinere Erstauflagen gedruckt werden, was wiederum Auswirkungen auf die gesamte Verwertung im Buchhandel hat. Deswegen gibt es kurzfristig nicht weniger Titel im sog. Modernen Antiquariat. Aber neben e-Books und digitalen Abo-Modellen wird so auch beim physischen Buch der Handel ausgeschlossen und eine 1:1-Beziehung zwischen Leser und Verlag möglich.
Anders als im klassischen Handel liegt im E-Commerce die Wertschöpfung nicht im Transport durch den Raum vom Hersteller ins Lager, nicht im Bevorraten, nicht in der Transformation von der Palette ins Regalfach oder der Veredlung. Sie liegt in der Gestaltung der Distribution ab Fertigung bis zum Kunden, vor allem aber in der Daten-Exzellenz, mit der unnötige Transporte vermieden, Lagerzeiten minimiert, das versandfähige Einzelprodukt Maßstab der Category Manager und die Customization Erfolgstreiber wird. Das ideale E-Commerce-Unternehmen besitzt keine Läger und bindet kein Kapital in Warenvorräten, weil dies Relikte einer Zeit sind, in der Information, Ware und Transaktion nur zusammen vermittelt werden konnten.