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Der Amazon-Moment (1): Die Auflösung der B2B2C-Wertschöpfungskette

verfasst von Martin Groß-Albenhausen

Der Handel als Mittler zwischen Produzent und Verbraucher – dieses Selbstverständnis verstellt heute vielen Unternehmen den Blick darauf, wie die Digitalisierung im Allgemeinen und E-Commerce im Besonderen ihr Geschäftsmodell angreift. Die klassische institutionenorientierte Aufgliederung zielt gerade darauf, dass die Wertschöpfung überwiegend nicht mit der Fertigung, sondern lediglich mit der „Manipulation“ durch Sortimentierung und vor allem der Distribution erzielt wird. Der Handel ist dann wiederum in verschiedene Stufen mit eindeutig zuordenbaren Betriebstypen gekennzeichnet.

Der damit verbundene funktionale Anspruch ist durch die Digitalisierung brüchig geworden. Denn er leitet sich aus der Grundannahme ab, dass Ware, Information und Transaktion in irgendeiner Weise verbunden durch die Wertschöpfungskette „reisen“. Sich davon gedanklich zu lösen, war auch in den Betriebstypen des Handels schwer, die mit Streckengeschäften permanent konfrontiert waren oder Produkte lange vor dem Zeitpunkt der Verfügbarkeit verkauft haben.

Die klassische Handelsdenke kennt deshalb den Weg vom Einkauf über die Disposition und Eingangslogistik, die Phase der Lagerung und Bewerbung bis zur Verkaufstransaktion und ggf. Ausgangslogistik/Distribution. Jedes Glied der Kette erzeugt einen Mehrwert, durch den sich der Abgabepreis an die nächste Handelsstufe oder den Verbraucher erhöht. Basisleistungen allein, wie z.B. das Kassieren, aber auch viel allgemeiner die Kreditierung oder Zentralregulierung bei Verbundgruppen und Einkaufsgenossenschaften, werden als differenzierender Faktor der Handelsstufe definiert. 

Wenn Händler heute die Auswirkungen der Digitalisierung auf den Handel diskutieren, geschieht das in der Regel auf der Folie der klassischen Handelsprozesse. Wie verändert das Suchmaschinen-Paradigma den Weg des Kunden zum Händler? Wie unterscheidet sich in dieser Hinsicht die Suche auf mobilen Endgeräten von Desktop-Szenarien? Wie kann ein lokaler Onlinemarktplatz Angebote so bündeln, dass die Menschen auf die Verfügbarkeit von Produkten in ihrer Region aufmerksam werden?

Implizit gehen die Händler davon aus, dass Onlinehandel die Leistungen der klassischen Wertschöpfungskette weiter erfüllt. Und wo diese – wie oben gezeigt – längst an neue Intermediäre abgetreten werden, konstruieren die Händler neue Funktionen, um eigene Wertschöpfung behaupten zu können. Stichwort „Erlebniskauf“. Dabei war der funktionenorientierte Ansatz in der Handelsbetriebslehre schon ein Befreiungsschlag, um die scheinbar geringe Wertschöpfungstiefe des Handels zu widerlegen.

Ohne dass Industrie, Groß- und Einzelhandel es bemerkt hätten, hat die Digitalisierung genau diese Konstruktion zerschlagen. Ich bezeichne das als den „Amazon-Moment“ des Handels. Nicht, dass damit alle Aufgaben einer einzelnen Handelsstufe obsolet würden. Aber die Digitalisierung hat den Verbund der Leistungen aufgelöst. Damit gibt es noch Hersteller, gewerbliche bzw. private Verbraucher – und „Intermediäre“. Der klassische Handel ist tot. Er weiß es nur noch nicht.

Nimmt man den funktionenorientierten Ansatz, gliedert sich die Wertschöpfung des Handels in räumliche, zeitliche, qualitative und quantitative Leistungen im Hinblick auf Waren, Geld und Informationen. Diese wurden in der ersten Zündstufe der Digitalisierung durch einzelne Anbieter wie Google, Paypal und führende Fulfillment-Anbieter herausgefordert.



Allerdings waren die Händler noch Herren der Produkte, Informationen, Transaktionen, die sie mithilfe der diversen Suchmaschinen, Payment-Anbieter und Logistik-Dienstleister in ihrer Wertschöpfung ergänzen konnten.

In der zweiten Stufe rissen die Preis- und Produktvergleiche die Informationsführerschaft an sich – sie speisten sich aus Informationen der Händler, lösten diese jedoch von der Ware ab und schufen eine Vergleichbarkeit auf bislang unerreichter Sortimentstiefe. Die Dominanz der Auswahl des Produktes über die Auswahl des Händlers führte zwangsläufig zur Herauslösung von Zahlungsfunktionen aus der Wertschöpfung des Händlers. So sehr, dass der schwedische Finanzdienstleister Klarna ein Modell entwickelte, mit dem nicht mehr im Checkout – also sozusagen an der Kasse – eine Payment-Lösung gewählt wurde, sondern der Checkout an sich vom Shop gelöst wurde. Parallel führte die Transparenz dazu, dass die Logistikleistung (Verfügbarkeit, Versandkosten, Lieferzeit) die Kaufentscheidung so stark beeinflussten, dass für viele Händler die Nutzung von externen Angeboten notwendig wurde.

An dieser Stelle trennen sich auch die Modelle von eBay und Amazon. eBay lässt die Wertschöpfungskette des Handels intakt. Der Anbieter ist dort stets auch der Besitzer der Ware, kontrolliert ihren Standort und bleibt Herr über die Informationen. Lediglich im Hintergrund nutzt eBay Produktdaten-Standards, um selbst als Aggregator einen Mehrwert bei anderen Aggregatoren wie etwa Suchmaschinen zu erzielen.

Amazon hingegen ist der perfekte Intermediär und markiert die dritte Zündstufe der Digitalisierung – und auch die Geburt von einem neuen Handelsparadigma. Zwar tritt das Unternehmen bei etwas mehr als der Hälfte der Verkäufe als Händler auf. Doch organisatorisch hat Amazon die Wertschöpfungskette zerlegt und in einen Wertschöpfungsraum transformiert, in dem die Leistung verschiedene Dimensionen annehmen kann. Diesen „Amazon-Moment“ in Bezug auf Information, Transaktion und das eigentliche Produkt diskutiere ich in den nächsten Blog-Posts.

Steigenden Wettbewerbsdruck beantworten die Unternehmen mit dem Ruf nach noch mehr fakturierbaren Mehrwertdienstleistungen. Oder sie verweisen auf Servicekomponenten, die das Unternehmen mit anbietet, als differenzierendes Kriterium. „Vielleicht kann jeder im Onlineshop einen Sack Reis verkaufen. Aber wir können den Sack Reis mit Kranwagen liefern und in den zweiten Stock heben.“

Diese wiederkehrende Argumentation zeigt, wo Digitalisierung nicht verstanden und der Amazon-Moment verkannt wurde.

1.     Daten statt Dinge: Der Sack Reis im ERP-System kennt bestimmte Werte, die sich vom Ding an sich und dem Ding im Kontext des Handels (Standort, Bestand etc.) ableiten. Der Sack Reis im E-Commerce schleppt deutlich mehr Datenfelder und Werte mit sich, die sich von seiner Funktion für den Kunden und den damit verbundenen digitalen Präsentationen (z.B. ein Rechner, für wie viele Risotto-Portionen ein Sack Reis genügt) ableiten.

2.     Prozesse statt Positionen: „10 Sack Reis“, „Lieferadresse im 2. Stockwerk“ und „Transport mit Kranwagen“ (letztere übrigens eine sogar durch GoodRelations-Vokabular im E-Commerce verankerte Aktivität) werden im E-Commerce, speziell in der Plattform-Ökonomie, zwar wie im Geschäft im Warenkorb bzw. an Checkout/Kasse abgebildet. Der eigentliche Prozess der Zustellung kann jedoch zerlegt und gemakelt werden.

3.     Kontrolle statt Besitz: Im E-Commerce ist es nicht nötig, den Sack Reis oder den Krankwagen zu besitzen. Entscheidend ist, die Lieferleistung auf Grundlage der möglichen Kombination von Beschaffungs-, Umschlags- und Distributionsprozessen, die auf exzellentem Datenmanagement beruhen, verlässlich und günstig zu erbringen.

Die Organisation des klassischen Handels hatte ihre Berechtigung in einer Zeit, in der Informationen, Waren und Geld schwer zu vermitteln waren. Digitalisierung nimmt die Faktoren Raum und Zeit aus der Gleichung; die Umsetzung von Quantität und Qualität kann durch Dienstleister genauso – und aufgrund der höheren Skalierbarkeit mit korrespondierenden Kostenvorteilen und Innovationspotenzialen sogar besser erbracht werden.

Vor allem aber: Steine, Geräte, Personal kann man nicht beliebig ausbauen – Daten und Prozesse kann man auf leistungsfähiger IT-Basis mit massiver Kostendegression verhundert- und vertausendfachen.

Nur wer den Amazon-Moment als Ende der „Institution Handel“ erkennt, kann neue Wertschöpfung als Intermediär erzeugen und die Verkörperungen von Handel, die Tätigkeiten und Leistungen neu erfinden.

Der Amazon-Moment (2) 

Der Amazon-Moment (3)

Der Amazon-Moment (4)

Der Amazon-Moment (5)