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Arbeitswelt E-Commerce: Eine Branche für sich?

Ein Gastbeitrag von Andreas Heß

Ende Oktober hat der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, Frank Bsirske, in einem Interview den Versandhandel direkt als Branche genannt, in dem „wirtschaftliche Fehlentwicklungen“ korrigiert werden müssten. Nicht nur bei Bahn und Lufthansa, auch bei Online- und Einzelhändlern wie Amazon, KiK und Stylebop wurde und wird in den letzten Wochen gestreikt. Diese Maßnahmen stehen in einem größeren politischen Kontext, den der folgende Artikel eines Tarif-Experten erläutert.


Die Wirtschaft und der Arbeitsmarkt befinden sich in einem strukturellen Wandel. Das Internet ist Treiber und Taktgeber für gravierende Veränderungen in der Logistik- und in der Handelsbranche. Die Arbeitsmarkt- und die Tarifpolitik stehen in diesem Zusammenhang vor besonderen Herausforderungen. Mit seiner wachsenden Bedeutung rückt auch der Versandhandel in den Fokus der Tarifpartner.

Im Interview mit der Berliner Zeitung am 24.10.2014 hat der Vorsitzende der ver.di, Frank Bsirske, die Intention der Gewerkschaft klar beschrieben.

„Der Mindestlohn schafft einen Sockel, auf dem tarifliche Verbesserungen aufsetzen können und der Lohnspirale nach unten Grenzen setzt. Und dass Tarifverträge nun leichter für allgemeinverbindlich erklärt werden können, ist ebenfalls ein wichtiger Schritt nach vorne. Damit wird das Tarifvertragssystem gestärkt. Wir diskutieren, ob wir die neuen Möglichkeiten im Versandhandel nutzen sollten, um wirtschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Dort haben wir mit Amazon einen global agierenden Konzern, der das Tarifsystem ablehnt, bedroht und versucht, sich durch das Unterlaufen von Tarifverträgen Vorteile gegenüber den Wettbewerbern zu verschaffen. Das kann nicht im Interesse der Beschäftigten liegen und auch nicht im Interesse fair handelnder deutscher Wettbewerber. Das ist eine wirtschaftliche Fehlentwicklung.“

Welches Ziel steckt hinter dieser gewerkschaftspolitischen Botschaft und welche Handlungsabsichten werden verfolgt? Die fehlende Tarifbindung eines global agierenden Konzerns im aufstrebenden Online- und Versandhandel (hier gibt es noch weitere Konzerne und Unternehmen) wird als Fehlentwicklung im Rahmen einer wettbewerbsfördernden Kultur gesehen. Zugleich erfolgt der Hinweis auf veränderte gesetzliche Rahmenbedingungen, die hier Korrekturen ermöglichen sollen.

Geht man weiter in die Tiefe, so ist festzustellen, dass im Kontext gesetzlicher Veränderungen – nämlich des schon verabschiedeten Tarifautonomiestärkungsgesetzes (TASG) und dem Gesetzentwurf zur Tarifeinheit (TEG) – weitere tarif- und gewerkschaftspolitische Dynamiken ausgelöst wurden. Die ohnehin vorhandenen Tarifkonflikte mit gewerkschaftspolitischem Potenzial, wie bei der Deutschen Bahn AG, der Deutschen Lufthansa AG oder der Kontraktlogistik, haben dadurch eine weitere Zuspitzung erfahren. Die durch die Rechtsprechung gegebene Tarifpluralität hat das Prinzip „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ bereits seit 2010 relativiert. Jetzt erleben wir einen zunehmenden gewerkschaftspolitischen Wettbewerb mit wachsender Konkurrenz zwischen Gewerkschaften (Berufsgewerkschaften und DGB-Gewerkschaften) sowie damit verbunden Tarifspiralen innerhalb von Branchen und Unternehmen. Die Gewerkschaften (des DGB, des DBB und die Berufsgewerkschaften) müssen und werden jetzt jeweils verstärkt Mitglieder-Akquisition betreiben, um mehr Tarifbindung zu erreichen. Dort, wo ihr ursprünglicher Einfluss nicht ausreicht, werden sie den Gesetzgeber sowie vorhandene Rahmenregelungen zur Umsetzung ihrer Ziele in Anspruch nehmen.

Der Gesetzgeber wird somit tendenziell „nicht besetzte tarifpolitische Räume“ ausfüllen. Nichts anderes sieht die neue „Allgemeinverbindlicherklärung“ (AVE) gemäß TASG vor. Hier sollen den Gewerkschaften zufolge vorhandene Tarifverträge (Niveau Einzelhandel) als Grundlage genommen werden.

Der e-Commerce und der Versandhandel rücken vom bisherigen „Rand des Tarifgeschehens“ in den Mittelpunkt des tarifpolitischen Interesses. Mangels bestehender Analysen und Beschreibungen der Branche hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Vorhandenseins sogenannter weißer Flecken in der Tarifpolitik, droht dieser neuen aufstrebenden Sparte möglicherweise eine Normierung (ggf. mit Hilfe des Gesetzgebers) zu ungünstigen und vor allem zunächst nicht selbst zu beeinflussenden Bedingungen.

Genau diese, auf den Versandhandel nicht oder kaum passenden Tarifsysteme des Einzelhandels, haben erst dazu geführt, dass die meisten Branchenunternehmen diese Tarifbindung vermieden oder sogar verlassen haben. Sie vereinbaren gegenwärtig Arbeitsbedingungen gänzlich ohne  Tarifbindung oder nur im Rahmen von Haustarifverträgen, die mehr oder weniger an bestehende Tarifsysteme der Logistik angelehnt sind. Dies geschieht zunächst nicht einmal zum Nachteil der Beschäftigten, da vielfach über diesem „Tarif“ entlohnt wird.

Wenn aber Tarifungebundenheit heute im Rahmen der AVE durch den Gesetzgeber und die Tarifpartner (gemäß eines gemeinsamen Antrages) auch da beseitigt werden kann, wo bislang der Organisationsgrad von Gewerkschaften gering war, schützt fehlende Tarifbindung eben nicht länger vor Konflikten.

Weil Tarifbindung in vielen Fällen wegen der mangelnden Eignung der bestehenden Tarifsysteme für das Geschäftsmodell Versand- und Onlinehandel vermieden wird, lohnt sich ein Blick auf die Chancen, die ein zeitgemäßes Tarifsystem/flexible Tarifmodelle für die Zukunft bieten könnten. Umgekehrt formuliert: Da Tarifsysteme die einzig legitimierten Kartelle bilden, können moderne Tarifverträge Unternehmen sogar helfen, in einem dynamischen Markt Konflikte zu entschärfen und nachhaltige Geschäftsmodelle zu entwickeln. Dafür bedarf es jedoch der Bereitschaft, diesen Markt mit seinen Besonderheiten erstmals unter tarifpolitischen Gesichtspunkten zu beschreiben und auf dieser Grundlage mit den Tarifpartnern neue Vereinbarungen und Modelle zu entwickeln.

Das sollten Sie wissen: Whitepaper zu aktuellen Tendenzen in der Tarifpolitik

Die hier zum Download angebotene tarifpolitische Ausarbeitung fast die wesentlichen Entwicklungen in der Tarifpolitik mit Blick auf die Tarifpluralität, Tarifeinheit und Tarifautonomie seit 2010 zusammen. Es zeigt die Entwicklungen in den Bereichen Gewerkschaften/Gewerkschaftspolitik, Tarifautonomie und Allgemeinverbindlichkeit sowie Tarifpluralität mit deren Folgen auf und stellt mögliche Implikationen auf Branchen und Unternehmen mit daraus folgenden Handlungsoptionen dar.

Über den Autor

Andreas Heß ist 1962 in Warnemünde geboren. Nach einer zehnjährigen Tätigkeit in der Gewerkschaft ÖTV auf Bundesebene, war er von 2001-2009 Geschäftsführer und Arbeitsdirektor der LSG Sky Chefs Deutschland sowie Senior Vice President HR Europa/Afrika. Die LSG gehört zu hundert Prozent zum Lufthansa-Konzern. Seit 2009 ist Herr Heß selbstständig in einer Unternehmensberatung - spezialisiert auf tarifpolitische Themenstellungen - tätig.