Blog:

Klimasünder Nummer 1 - oder doch nicht?

Zugegeben, die Ankündigung von Jeff Bezos, dass Amazon bis 2040 klimaneutral arbeiten will, wurde kaum zufällig zum globalen "Friday for Future" lanciert. Ob die Ziele ambitioniert genug sind, kann und darf man hinterfragen, muss man vielleicht als kritischer Journalist sogar kommentieren.

Aber was der verantwortliche Feuilleton-Redakteur für den Bereich Online und Medien, Michael Hanfeld, in der Frankfurt Allgemeine Zeitung (FAZ) anführt, wird pars pro toto zu einem Vorwurf an den gesamten Online- und Versandhandel, dem Klima und der Gesellschaft gleichermaßen massiv zu schaden.

Und darum muss ich hier aus einer Mücke einen Elefanten machen. Hanfeld führt nämlich nicht ein einziges wirklich unternehmensbezogenes, sondern durchgängig nur branchenbezogene Argumente an, um Amazon als obersten Klimasünder zu denunzieren:

  • Zerstörung des Einzelhandels
  • Schlechte Arbeitsbedingungen ("Sklavenarbeit!")
  • Verstopfung der Verkehrswege durch Lieferfahrzeuge
  • Vernichtung von Retouren in höherem Maß als im Einzelhandel
  • Totalüberwachung durch Smart Assistants

Das ist eine mehr als sonderbare Argumentation: Statt sich auf die Kritik am Plan des Unternehmens zu konzentrieren, stellt er die Bemühungen in Kontrast zu einem Sündenregister, das mit Klima an sich wenig bis nichts zu tun hat. Dabei sind die vermeintlichen Sünden an keiner Stelle Fakten, sondern in erster Linie subjektive Einschätzungen des Autors, zum Teil ohne Grundlage aus Zahlen und Fakten.

Hanfelds Kommentar läuft bei der FAZ in der Rubrik "Debatte". Einige Kommentatoren sekundieren, viele wundern sich über die "Wutrede". Wohlan: Was ist dran am Sündenregister von Hanfelds Klimakiller Nummer 1?

  • Dass der ökologische Fußabdruck beim Einkauf im stationären Handel besser als im Onlinehandel sei, ist nicht erwiesen. Das aber wäre der einzige inhaltlich gerechtfertigte Grund, Amazon als Primus des Onlinehandels hier eine Klimasünde anzulasten. Als Fakt stellt Hanfeld hier hingegen dar, dass Amazon und der Onlinehandel den Einzelhandel "zerstören". Das lässt sich aber nicht belegen - auch wenn nicht zuletzt Betreiber von Malls die Vorwürfe an die eigene Adresse gerne genau so ablenken. Hanfeld meint auch gar nicht den Einzelhandel, er meint den stationären Innenstadt- und Kiezhandel. Auf dessen Wohlergehen wirken aber eine Fülle von Einflüssen - von Parkraumbewirtschaftung bis zu Bauleitplanungen, Flächennutzungsplänen und Verkehrskonzepten. Die Städte sind da längst weiter und versuchen, in Business Improvement Districts und "Smart City"-Konzepten Online- und stationären Handel zusammenzudenken. 
  • Dass "Sklavenarbeit" herrsche, ist ein überzogener und ziemlich seltsamer Vorwurf im Klimakontext. Als Beleg dafür, dass Bezos‘ „Unternehmen das Klima in vielfacher Hinsicht belastet“, taugt das Argument inhaltlich nicht. Aber es verleitet wiederum dazu, zwar die Argumentation infrage zu stellen, nicht aber die unterstellte Sünde selbst. Dabei fiele es schwer, Sklavenarbeit nachzuweisen, wenn die bei einem Unternehmen gezahlten Löhne, Prämien und Arbeitsbedingungen nicht schlechter oder besser als bei anderen Onlinehandelsunternehmen oder - da er vermutlich auf die Lagerlogistik anspielt - anderen Fulfillment-Anbietern sind. Über die Höhe des Gehalts und die Arbeitsbedingungen im Vergleich von Pickern und Packern im Onlinehandel sowie Warenverräumern und Lageristen im klassischen Einzelhandel kann man trefflich streiten. Man mag auch bemängeln, dass Amazon keinen Tarifvertrag unterzeichnet. Die negative Koalitionsfreiheit - sprich der Verzicht auf einen Tarifvertrag - ist aber gutes Recht und wird auch vom größten Teil der stationären Händler für sich in Anspruch genommen. 
  • Dass ein Unternehmen allein oder der Onlinehandel als Ganzes die Verkehrswege verstopfe, ist zwar ein Klimaargument. Aber auch dieses wird als Fakt dargestellt, obwohl es lediglich eine Meinung ist, die  auch durch Wiederholung nicht richtiger wird. Ja, mehr Onlinehandel bedeutet mehr Pakete bedeutet mehr Lieferfahrzeuge. Der Eintrag des gesamten Onlinehandels und aller Zustellfahrzeuge macht bis heute aber nur einen sehr geringen Anteil der Verkehrslast in den Innenstädten aus. Das hat die MRU Unternehmensberatung ermittelt. Zwar nur mathematisch auf Grundlage der von uns seit Jahren ermittelten Branchen-Umsatzzahlen. Aber zumindest sollte man sich mit diesen Zahlen auseinandersetzen, und nicht einfach ein Vorurteil als Sünde anlasten. 
  • Vernichtung von Retouren: Eine Sünde gegen Klima und Nachhaltigkeit! Hier sagen die Zahlen - nichts. Laut einer unabhängigen Studie der Uni Bamberg gehen 96 Prozent der Retouren des Onlinehandels wieder in den regulären Verkauf. Ob die verbleibenden 4 Prozent in höherem Maße als im Einzelhandel vernichtet werden, weiß niemand. Das genau ist auch Begründung für einen aktuell im Bundesumweltministerium mit Onlinehandel, Einzelhandel und Herstellern geführten Dialog. Auch die angeblich überdurchschnittliche Vernichtung von Retouren ist also einstweilen lediglich Meinung, als Fakt präsentiert.
  • Totalüberwachung durch Smart Assistants. Das ist ein interessanter Punkt. Gemeint ist hier wohl, dass Nutzer von Geräten wie Alexa oder Googles Smart Assistant ohne ihr Wissen belauscht werden. Die Technik kann das, und Datenschutzgesetzgebung muss hier klare Regeln definieren. Dass immer wieder Vorfälle gemeldet werden, legt zumindest nahe, dass "Privacy by default" nicht sichergestellt ist, wenn das Gerät zuhören muss, um sein Aktivierungskennwort zu hören. Unterstellt wird Amazon hier aber gezielte, vorsätzliche Ausspähung. 
    Mit Klimaschutz oder Nachhaltigkeit hat Hanfelds Argument inhaltlich hingegen nicht nur nichts zu tun, sondern ließe sich sogar als gute Tat interpretieren. Wenn wir über Smart Assistants sprechen, dann geht es hier um Sensorik und Big Data. Unstrittig ist, dass die offene Plattform solcher Geräte es möglich macht, hier eine Vielzahl sinnvoller "Skills" oder "Actions" zum Umweltschutz einzubauen. Smart Home, gesteuert über Smart Assistants, kann eine Menge zur Vermeidung von Umweltbelastungen beitragen. Das kommt zum Preis von permanenter Überwachung, Erhebung und Verarbeitung von Daten - darüber müssen wir reden.

Ein Kommentar darf unfair sein in dem Sinne, dass man sich in einer Diskussion auf eine Seite schlägt. Es steht dem kritischen Beobachter jederzeit zu (und ich finde es sogar für Journalisten eine Pflicht), PR-Aktionen zu hinterfragen - viel zu häufig werden lediglich Pressemeldungen abgeschrieben. Er sollte Widersprüche aufzeigen und Darstellungen gegebenefalls inhaltlich widerlegen. Es ist auch richtig, einem Unternehmen vorzuwerfen, durch ein positives Projekt von der möglicherweise negativen Gesamtbilanz abzulenken. Nichts anderes meint schließlich der Vorwurf des Greenwashing.

Aber ein Kommentar eines verantwortlichen Redakteurs muss den Prinzipien genügen, die sich eine Publikation selbst setzt. Im Falle der FAZ heißt das: "Sie liefert täglich gründlich recherchierte Fakten, präzise Analysen, kluge Kommentare und diskursfähige Positionen."

Und genau das löst Michael Hanfeld hier nicht ein. Er arbeitet sich auf Grundlage nicht wirklich begründbarer Abneigungen und Vorurteile gegenüber einem Unternehmen und Vertriebsweg an Amazon ab - und das in einer gezielt demagogischen Weise.

Schade. Eine inhaltliche Auseinandersetzung findet auch in den Kommentaren nicht mehr statt.