Im Mai 2021 hat der bevh gemeinsam mit seinem Mitglied Alibaba und einer Pilot-Gruppe von Mitgliedsunternehmen die erste deutsche „Netpreneur Masterclass“ veranstaltet. Sie ist Teil der Alibaba Global Initiative, die verschiedene Wirtschaftssektoren mit Modellen digitaler Wertschöpfung vertraut machen soll, die wie in China Wachstum versprechen. Mit dabei war Rene Otto, bevh-Vorstandmitglied und Unternehmer mit eigenen Onlineshops, Marktplatz-Verkauf und Consulting-Geschäft. Mit ihm haben wir über die Erfahrungen im Rahmen der Masterclass gesprochen.
Rene, Du bist erfolgreicher E-Commerce-Unternehmer mit eigenen Shops und Marktplatzaktivitäten, und Du hilfst auch vielen etablierten Versand- und Onlinehändlern bei der Optimierung ihrer Geschäfte. Warum hast Du dich dazu entschlossen, eine Masterclass zu besuchen, wo Du doch selbst Masterclasses hältst?
Es gab genau 2 Gründe - in erster Linie, aus Überzeugung und weil wir uns als Unternehmen stetig weiterentwickeln wollen und natürlich auch müssen, um am Markt bestehen zu können. Da bin ich in Fokusthemen gern „First Mover“ und investiere gern vor allen anderen Zeit und Geld in grundlegende Projekte. Und zum anderen habe ich ja im Vorstand des bevh die Verantwortung für das Ressort „Innovationen“, da bot es sich an, gleich an der 1. Alibaba Netpreneur Masterclass teilzunehmen. Außerdem konnte ich im Rahmen der AGI-Masterclass „Masterclass besuchen“ und „Masterclass halten“ sogar kombinieren - die German Lesson haben wir ja zusammen mit Karl Wehner, dem Deutschland Chef von Alibaba zusammen gestaltet.
Mit welcher Erwartung bist Du an die Alibaba Netpreneur Masterclass herangegangen?
In erster Linie bin ich sehr neugierig an das Thema herangegangen. Ich bin zudem mit einem sehr offenen Mindset an die Masterclass herangegangen, weil mich China und seine Unternehmen in den letzten Jahren gelehrt haben, nicht mit einer vorgefertigten, westlichen Erwartungshaltung oder Meinung an Themen, die in dem Kontext China stehen, heranzugehen. Das heißt nicht, dass ich alles naiv auf mich habe zukommen lassen, sondern einfach die Offenheit hatte, die man in einer globalisierten Welt braucht, sich auf Neues einzulassen. Und auch dieses Mal hat sich gezeigt, dass die Herangehensweise nicht falsch war. In diesem Fall hat mich übrigens überrascht, wie ähnlich strategische Herangehensweisen auf Meta-Ebene sind.
Der chinesische Markt scheint vielen verschlossen – kulturell, sprachlich, preislich, operativ. Kann sich auch ein kleines Unternehmen dorthin wagen?
Verschlossen ist der Markt in keinster Weise, aber er ist aus 2 Gründen schwierig: zum einen unvollstellbar groß und dann auch noch größtenteils für viele unbekannt. Das macht es für kleinere Player natürlich nicht einfacher. Aber schiere Größe an sich ist auch kein Faktor für garantierten Erfolg - im Umkehrschluss gilt deshalb, dass fehlende Größe kein Argument ist, nicht nach China zu gehen. Es kommt einfach auf die richtige Einschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit und der externen Rahmenbedingungen an , die der Markt bietet. Wenn dann auch noch die Markterschließung-Strategie gut ist, und die hängt auch nicht von der Größe des Unternehmens ab, dann kann man sehr wohl als kleines Unternehmen, den Schritt wagen.
Was hast Du über den chinesischen Markt gelernt, das Dir noch nicht bekannt war?
Ich war 2006 das erste Mal in Shanghai, Hangzhou und Ningbo - vorher war China für mich total unbekannt. Vor Ort bin ich als erstes mit dem Made in Germany Transrapid gefahren, dann habe ich vor dem Gebäude heimatlich anmutende Stiefmütterchen gesehen und zum Frühstück österreichische Konfitüre serviert bekommen. Das fand ich völlig verwirrend. Es zeigte mit aber schon damals, dass die Metropolen Chinas sich nicht wesentlich von denen im Westen unterscheiden.
In der Alibaba Masterclass habe ich in diesem Jahr auf kultureller Ebene eindrucksvoll gelernt, dass die Unternehmens-Werte einen wesentlichen Anteil für den Erfolg eines Business auf dem chinesischen Markt darstellen und vor allem, dass diese nahezu identisch mit denen aus Westeuropa sind - Der aktuell viel zitierte „Reason Why“ und die Werte der Generation Z sind global gültig – und das ohne die westliche Legacy, die wir in einer ab den 90er dominierten „Shareholder Value Orientierung“ an den Börsen hatten und die sich auf die Kultur der westlichen Unternehmen 1:1 übertragen hatten.
Auf den ersten Blick erscheinen viele der Themen der AGI strategisch anzusetzen. Was hast Du für die tägliche Arbeit mitgenommen?
Ja, die AGI Netpreneur Masterclass ist sehr auf strategische Themen fokussiert - eine Art Top-Down-Thinking - diese Arbeitsweise ist mir sehr vertraut, weil wir in unseren Unternehmen genauso arbeiten - Ziele werden grundsätzlich Top Down initiiert und dann im Anschluss mit Bottom UP Maßnahmen unterlegt. Für die praktische Arbeit war das für mich ein konkreter Beleg, dass unsere Arbeitsweise sehr ähnlich ist und wir damit auf einem richtigen Weg sind. Unternehmen, die nicht strategisch orientiert, sondern eher aus dem praktischen „Hands On“ kommt, kann die Arbeitsweise noch einmal eine gute Ergänzung in der gesamtheitlichen Methodik sein. Es wird auf jeden Fall sehr einfach und pragmatisch erklärt.
„Mission, Vision & Values“ sind ein Kernthema der Masterclass. „Haben wir doch schon“, wird mancher sagen. Und Ihr habt ja bei Rock N Shop auch Leitlinien vereinbart. Ist das also speziell für Führungskräfte sozusagen „business as usual“? Oder hat Alibaba hier tatsächlich einen eigenen Ansatz?
Jedes Unternehmen einer gewissen Größe hat wahrscheinlich mindestens einmal seine Vision oder kulturellen Grundsätze einmal verschriftlicht und meistens daraus einen Marketing-orientierten Unternehmens-Slogan kreiert. Rock N Shop, aber auch die Schwester-Unternehmen verfügen bei uns alle über Leitsätze und ein Mission Statement, welches nicht nur in Papierform existiert, sondern gelebt wird. Wir haben schon lange vor der „Reason Why“-Diskussion Werte definiert, die uns wichtiger sind als „Shareholder Value“, daher haben wir eine gewisse Sonderstellung im Vergleich zu vielen Unternehmen in Europa.
Zur Frage, ob Alibaba einen eigenen Ansatz hat, kann man wirklich sagen, dass man im Vergleich zu europäischen und US-amerikanischen BWL eine Art Umkehr von Vision und Mission vorgenommen hat.
In Europa ist die Vision mit einer wirklichen "Langfrist-Strategie" beschreibbar und die Mission der „Weg die Vision“ zu erreichen. Alibaba setzt die Mission mit dem „Reason Why“ gleich und ordnet die Vision als Mittel-bis-Langfristziel der Mission unter. Aus meiner Sicht entspricht diese Definition deutlich besser der globalen gesellschaftlichen Entwicklung: "Warum gibt es uns?“ als Mission, ist deutlich langfristiger angelegt, als "wie entwickelt sich der Shareholder Value", der bei den meisten westlichen Unternehmen immer noch ein zentraler Punkt der Vision ist, wenn auch meist unterbewusst.
Ganz vergleichbar sind die Märkte nicht – in China ist die Digitalisierung insbesondere mit Mobile Commerce viel weiter; es gibt eine höhere Technikakzeptanz und auf den ersten Blick weniger Einschränkungen für die Nutzung von Daten. Gibt es technologie-getriebene Konzepte, für die Du hier in Europa und insbesondere in Deutschland eine Marktchance siehst?
China muss sich im Gegensatz zu Europa und den USA nicht mit 40 Jahren Legacy herumplagen, deshalb ist China definitiv weiter, sowohl in der Entwicklung als auch vor allem im Mindset. Und allein deswegen werden es tech-driven Konzepte aus China in Richtung Westen schaffen. Wenn wir nur einmal an den Einzelhandel in Deutschland denken, der in Metropolen als einziges Argument nach wie vor auf „Fussgängerzonen“ als Synonym für "Angebotsbündelung“ setzt und nicht wahrhaben will, dass sich der Kundenbedarf einfach grundlegend geändert hat, dann hat er existentiellen Handlungsbedarf. Alibaba hat in über 300 HEMA Stores bereite eine Synthese aus LEH-High-End Supermärkten und Kirchturm eCommerce (in einem Radius von 3 km, Auslieferung von Online-Bestellungen innerhalb von 30 min aus der Supermarktfläche) etabliert - doppelte Convenience & doppelte Flächennutzung- so genial wie einfach! Wir hatten ein ähnliches Konstrukt bereits 2013/14 für einen norddeutschen LEH Konzern umgesetzt und waren überrascht wie schnell und kosteneffizient dieses machbar, aber das Konzept wurde dann wieder verworfen. Allein solche Themen sind heute mit aktueller Technik noch besser umsetzbar und die werden als Vorbild auch kopiert werden.
Die AGI verlangt einiges an zeitlichem Einsatz. Hand aufs Herz: sollte man in der Zeit nicht lieber ein paar Produkte verkaufen?
Ja, der Aufwand war schon echt umfangreich in den 7 Wochen der Masterclass. Grundsätzlich ist meine Arbeitsweise so geprägt, dass ich wenn überhaupt dann umfassend in ein Thema investiere. Und so habe ich diese Masterclass a) komplett durchgezogen, b) wirklich in jedem Schritt wirklich ernsthaft bearbeitet und vor allem c) die Arbeitsergebnisse direkt in unsere Unternehmen einfließen lassen.
Meine Idee dahinter war eine klare ROI-Rechnung: "Okay, in der Zeit könnte ich hands on 2 Artikel direkt verkaufen, aber wenn ich die Zeit investiere, kann ich nach der Masterclass 8 x 2 Artikel verkaufen“.
Ich habe mir in den letzten Jahren allerdings auch die Infrastruktur erarbeitet, dass ich mich zumindest in Teilen meiner Ressourcen gut auf strategische Themen konzentrieren kann, weil meine hochgeschätzen Kollegen einen super Job beim Verkaufen der 2 Artikel machen und ich in Teilen frei arbeiten kann.
Des Weiteren hat es für mich einen weiteren Grund, in diesen Bereichen fit zu sein und auch zu bleiben. Mit unsere Tochterfirma trustinmarketplace bieten wir Beratungsdienstleistung für Marktplätze an. Im Bereich von Amazon sind wir bereits vollumfänglich fit, in Sachen Alibaba & China haben wir noch viel Potential, so dass gerade die vermittelten Lehrinhalte zum chinesischen Markt, zu technischen Rahmenbedingungen etc. sehr hilfreich waren.
Am Ende der Masterclass steht ein „Capstone Assignment“, also eine Anwendung des gelernten Inhalts auf ein eigenes Projekt. Wie frei ist man bei der Wahl der Themen?
Das Capstone Assignment ist im Prinzip eine Klammer um die gesamte Masterclass, sie ist also alles andere als frei in der thematischen Wahl der Inhalte. Das würde auch überhaupt keinen Sinn machen, wenn man sich 7 Wochen mit dem Chinesischen Markt, der Alibaba-Kultur, Mission, Vision, Values und Strategie beschäftigt und dann als „Schlusstein“ mit einem gänzlich anderen Thema auseinander setzt. Das Capstone Assignment war für mich noch einmal ein sehr gutes Instrument, die gelernten und erarbeiteten Inhalte so aufzuarbeiten, dass ich sie in unsere Unternehmen transferieren konnte, was ich dann auch tatsächlich direkt gemacht habe und somit einen konkret nutzbaren Output generiert habe.
Zusammengefasst: Für wen lohnt sich die Teilnahme an der Masterclass – und wem würdest Du abraten?
Grundsätzlich empfehle ich ich allen neugierigen eCommercern die Teilnahme - das Neugelernte wird je nach Erfahrung unterschiedlich umfassend sein. Aber in Summe würde ich eben auch erfahrenen C-Level Managern raten, sich diese Auszeit vom Tagesgeschäft zu nehmen - aber nur dann, wenn man a) wirklich die Ressource hat, nicht dauerhaft im Konflikt mit dem Tagesgeschäft zu stehen und b) vor allem die intrinsische Motivation, es durchzuziehen - ein Baden ohne Nasswerden, macht keinen Sinn, sondern ist nur Zeitverschwendung. Allen jungen Kollegen empfehle ich die Masterclass uneingeschränkt - von den Besten Lernen lohnt sich einfach immer.
Für mich standen am Ende 42 gesammelte von 50 erreichbaren Punkten, die sowohl dazu führten, dass ich ein AGI Zertifikat für den erfolgreichen Abschluss erhalten habe, als auch eine Einladung zu Folgeveranstaltungen an der AGI vor Ort in Hangzhou. Und nach 15 Jahren werde ich sicher auch die Zeit investieren, nach Hangzhou zu fahren, wenn eine Einladung kommt.
Nach dem erfolgreichen Pilotprojekt findet im Oktober/November die nächste Runde der Alibaba Netpreneur Masterclass statt. Wenn Sie als Händler Interesse an der Teilnahme haben, wenden Sie sich beim bevh an Martin Groß-Albenhausen. Die Teilnahme am 6-wöchigen Programm ist für qualifizierte Unternehmer kostenlos möglich. Erfolgreiche Absolventen werden zu einer einwöchigen Praxis-Phase am Konzernsitz von Alibaba in Hangzhou (China) eingeladen.